Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.A. Altorientalisches. verwandten Richtung nicht etwa aus äusseren Gründen erfolgt seinkönne. Gelänge es nachzuweisen, dass die neuseeländische Spirale in Folge bestimmter, rein technischer Nothwendigkeiten, in Folge eines daselbst gegebenen Materials, oder irgend eines anderen materiellen Zwanges entstanden ist und ihre hohe Ausbildung erlangt hat, so müsste untersucht werden, ob die gleichen Verhältnisse nicht auch bei den Altegyptern zutrafen. Es ist aber eine ausserordentlich bemerkens- werthe Thatsache, dass gerade für die neuseeländische Spirale die gemeinüblichen Ableitungen dieses Motivs aus rein technischen Ur- sprüngen versagen. Die Spirale gilt einmal als ein typisches Metall- ornament (Drahtspirale), auf Neuseeland giebt es aber kein Metall und daher auch keinen Metalldraht. Gottfried Semper (Stil. I. 167) scheint wiederum das suggerirende Element der Spirale in der Drehung des textilen Fadens erblickt zu haben: auch zur Herstellung eines textilen Fadens haben es die Maori nicht gebracht. Ebenso vermissen wir auf Neuseeland Lederriemen, die durch ihre Zusammenrollung dem Maori die formale Schönheit des Spiralenmotivs hätten vermitteln können. Wohl giebt es und gab es bei ihnen Flechtwerke, die sich aus einem Mittel- punkte entwickeln, und an denen die keineswegs besonders augen- fällige Spiralwindung mit einigem guten Willen herausgebracht werden kann. Und auf diese wollte man im Ernste die gesammte Spiralorna- mentik der Maori zurückführen? Gerade das harte Material, Holz und Stein, ist es unbegreiflicherweise, das sich die Maori ausgesucht haben, um in dasselbe mit ihren Obsidianwerkzeugen unter Aufwendung un- säglicher Mühe ihre Spiralornamente einzugraben. Einen Untergrund allerdings verwendeten sie hiefür, der diesem Processe weniger Wider- stand entgegensetzte: ihre eigene Körperhaut; aber auch diese hat weder mit metallischem noch mit textilem Charakter irgend etwas zu thun. Die zierlichsten und kunstvollsten Spiralwindungen finden sich in den Tätowirungen; zum Belege hiefür mögen Fig. 31 und 32 dienen, die aus Lubbock's "Entstehung der Civilisation" entlehnt sind. Eine solche Entwicklung der Spiralornamentik müsste uns selbst dann räthsel- haft erscheinen, wenn wir die Gewissheit besässen, dass die Maori vor- mals die Kenntniss der Metalle und des Drahtziehens besessen haben. Gerade dieses Beispiel sagt uns vielmehr eindringlich, dass es keines- wegs technische Vorgänge gewesen sein müssen, die bei der Urzeugung der Motive die maassgebende Rolle gespielt haben37). 37) Eine sehr lehrreiche und übersichtliche Zusammenstellung der mannig-
fachen Verwendungsarten der Spirale in der Kunst gab A. Andel im Pro- A. Altorientalisches. verwandten Richtung nicht etwa aus äusseren Gründen erfolgt seinkönne. Gelänge es nachzuweisen, dass die neuseeländische Spirale in Folge bestimmter, rein technischer Nothwendigkeiten, in Folge eines daselbst gegebenen Materials, oder irgend eines anderen materiellen Zwanges entstanden ist und ihre hohe Ausbildung erlangt hat, so müsste untersucht werden, ob die gleichen Verhältnisse nicht auch bei den Altegyptern zutrafen. Es ist aber eine ausserordentlich bemerkens- werthe Thatsache, dass gerade für die neuseeländische Spirale die gemeinüblichen Ableitungen dieses Motivs aus rein technischen Ur- sprüngen versagen. Die Spirale gilt einmal als ein typisches Metall- ornament (Drahtspirale), auf Neuseeland giebt es aber kein Metall und daher auch keinen Metalldraht. Gottfried Semper (Stil. I. 167) scheint wiederum das suggerirende Element der Spirale in der Drehung des textilen Fadens erblickt zu haben: auch zur Herstellung eines textilen Fadens haben es die Maori nicht gebracht. Ebenso vermissen wir auf Neuseeland Lederriemen, die durch ihre Zusammenrollung dem Maori die formale Schönheit des Spiralenmotivs hätten vermitteln können. Wohl giebt es und gab es bei ihnen Flechtwerke, die sich aus einem Mittel- punkte entwickeln, und an denen die keineswegs besonders augen- fällige Spiralwindung mit einigem guten Willen herausgebracht werden kann. Und auf diese wollte man im Ernste die gesammte Spiralorna- mentik der Maori zurückführen? Gerade das harte Material, Holz und Stein, ist es unbegreiflicherweise, das sich die Maori ausgesucht haben, um in dasselbe mit ihren Obsidianwerkzeugen unter Aufwendung un- säglicher Mühe ihre Spiralornamente einzugraben. Einen Untergrund allerdings verwendeten sie hiefür, der diesem Processe weniger Wider- stand entgegensetzte: ihre eigene Körperhaut; aber auch diese hat weder mit metallischem noch mit textilem Charakter irgend etwas zu thun. Die zierlichsten und kunstvollsten Spiralwindungen finden sich in den Tätowirungen; zum Belege hiefür mögen Fig. 31 und 32 dienen, die aus Lubbock’s „Entstehung der Civilisation“ entlehnt sind. Eine solche Entwicklung der Spiralornamentik müsste uns selbst dann räthsel- haft erscheinen, wenn wir die Gewissheit besässen, dass die Maori vor- mals die Kenntniss der Metalle und des Drahtziehens besessen haben. Gerade dieses Beispiel sagt uns vielmehr eindringlich, dass es keines- wegs technische Vorgänge gewesen sein müssen, die bei der Urzeugung der Motive die maassgebende Rolle gespielt haben37). 37) Eine sehr lehrreiche und übersichtliche Zusammenstellung der mannig-
fachen Verwendungsarten der Spirale in der Kunst gab A. Anděl im Pro- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0104" n="78"/><fw place="top" type="header">A. Altorientalisches.</fw><lb/> verwandten Richtung nicht etwa aus äusseren Gründen erfolgt sein<lb/> könne. Gelänge es nachzuweisen, dass die neuseeländische Spirale in<lb/> Folge bestimmter, rein technischer Nothwendigkeiten, in Folge eines<lb/> daselbst gegebenen Materials, oder irgend eines anderen materiellen<lb/> Zwanges entstanden ist und ihre hohe Ausbildung erlangt hat, so müsste<lb/> untersucht werden, ob die gleichen Verhältnisse nicht auch bei den<lb/> Altegyptern zutrafen. Es ist aber eine ausserordentlich bemerkens-<lb/> werthe Thatsache, dass gerade für die neuseeländische Spirale die<lb/> gemeinüblichen Ableitungen dieses Motivs aus rein technischen Ur-<lb/> sprüngen versagen. Die Spirale gilt einmal als ein typisches Metall-<lb/> ornament (Drahtspirale), auf Neuseeland giebt es aber kein Metall und<lb/> daher auch keinen Metalldraht. Gottfried Semper (Stil. I. 167) scheint<lb/> wiederum das suggerirende Element der Spirale in der Drehung des<lb/> textilen Fadens erblickt zu haben: auch zur Herstellung eines textilen<lb/> Fadens haben es die Maori nicht gebracht. Ebenso vermissen wir auf<lb/> Neuseeland Lederriemen, die durch ihre Zusammenrollung dem Maori die<lb/> formale Schönheit des Spiralenmotivs hätten vermitteln können. Wohl<lb/> giebt es und gab es bei ihnen Flechtwerke, die sich aus einem Mittel-<lb/> punkte entwickeln, und an denen die keineswegs besonders augen-<lb/> fällige Spiralwindung mit einigem guten Willen herausgebracht werden<lb/> kann. Und auf diese wollte man im Ernste die gesammte Spiralorna-<lb/> mentik der Maori zurückführen? Gerade das harte Material, Holz und<lb/> Stein, ist es unbegreiflicherweise, das sich die Maori ausgesucht haben,<lb/> um in dasselbe mit ihren Obsidianwerkzeugen unter Aufwendung un-<lb/> säglicher Mühe ihre Spiralornamente einzugraben. Einen Untergrund<lb/> allerdings verwendeten sie hiefür, der diesem Processe weniger Wider-<lb/> stand entgegensetzte: ihre eigene Körperhaut; aber auch diese hat<lb/> weder mit metallischem noch mit textilem Charakter irgend etwas zu<lb/> thun. Die zierlichsten und kunstvollsten Spiralwindungen finden sich<lb/> in den Tätowirungen; zum Belege hiefür mögen Fig. 31 und 32 dienen,<lb/> die aus Lubbock’s „Entstehung der Civilisation“ entlehnt sind. Eine<lb/> solche Entwicklung der Spiralornamentik müsste uns selbst dann räthsel-<lb/> haft erscheinen, wenn wir die Gewissheit besässen, dass die Maori vor-<lb/> mals die Kenntniss der Metalle und des Drahtziehens besessen haben.<lb/> Gerade dieses Beispiel sagt uns vielmehr eindringlich, dass es keines-<lb/> wegs technische Vorgänge gewesen sein müssen, die bei der Urzeugung<lb/> der Motive die maassgebende Rolle gespielt haben<note xml:id="seg2pn_3_1" next="#seg2pn_3_2" place="foot" n="37)">Eine sehr lehrreiche und übersichtliche Zusammenstellung der mannig-<lb/> fachen Verwendungsarten der Spirale in der Kunst gab A. <hi rendition="#g">Anděl</hi> im Pro-</note>.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [78/0104]
A. Altorientalisches.
verwandten Richtung nicht etwa aus äusseren Gründen erfolgt sein
könne. Gelänge es nachzuweisen, dass die neuseeländische Spirale in
Folge bestimmter, rein technischer Nothwendigkeiten, in Folge eines
daselbst gegebenen Materials, oder irgend eines anderen materiellen
Zwanges entstanden ist und ihre hohe Ausbildung erlangt hat, so müsste
untersucht werden, ob die gleichen Verhältnisse nicht auch bei den
Altegyptern zutrafen. Es ist aber eine ausserordentlich bemerkens-
werthe Thatsache, dass gerade für die neuseeländische Spirale die
gemeinüblichen Ableitungen dieses Motivs aus rein technischen Ur-
sprüngen versagen. Die Spirale gilt einmal als ein typisches Metall-
ornament (Drahtspirale), auf Neuseeland giebt es aber kein Metall und
daher auch keinen Metalldraht. Gottfried Semper (Stil. I. 167) scheint
wiederum das suggerirende Element der Spirale in der Drehung des
textilen Fadens erblickt zu haben: auch zur Herstellung eines textilen
Fadens haben es die Maori nicht gebracht. Ebenso vermissen wir auf
Neuseeland Lederriemen, die durch ihre Zusammenrollung dem Maori die
formale Schönheit des Spiralenmotivs hätten vermitteln können. Wohl
giebt es und gab es bei ihnen Flechtwerke, die sich aus einem Mittel-
punkte entwickeln, und an denen die keineswegs besonders augen-
fällige Spiralwindung mit einigem guten Willen herausgebracht werden
kann. Und auf diese wollte man im Ernste die gesammte Spiralorna-
mentik der Maori zurückführen? Gerade das harte Material, Holz und
Stein, ist es unbegreiflicherweise, das sich die Maori ausgesucht haben,
um in dasselbe mit ihren Obsidianwerkzeugen unter Aufwendung un-
säglicher Mühe ihre Spiralornamente einzugraben. Einen Untergrund
allerdings verwendeten sie hiefür, der diesem Processe weniger Wider-
stand entgegensetzte: ihre eigene Körperhaut; aber auch diese hat
weder mit metallischem noch mit textilem Charakter irgend etwas zu
thun. Die zierlichsten und kunstvollsten Spiralwindungen finden sich
in den Tätowirungen; zum Belege hiefür mögen Fig. 31 und 32 dienen,
die aus Lubbock’s „Entstehung der Civilisation“ entlehnt sind. Eine
solche Entwicklung der Spiralornamentik müsste uns selbst dann räthsel-
haft erscheinen, wenn wir die Gewissheit besässen, dass die Maori vor-
mals die Kenntniss der Metalle und des Drahtziehens besessen haben.
Gerade dieses Beispiel sagt uns vielmehr eindringlich, dass es keines-
wegs technische Vorgänge gewesen sein müssen, die bei der Urzeugung
der Motive die maassgebende Rolle gespielt haben 37).
37) Eine sehr lehrreiche und übersichtliche Zusammenstellung der mannig-
fachen Verwendungsarten der Spirale in der Kunst gab A. Anděl im Pro-
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