Erlauben Sie mir nunmehr, hoher Gönner, daß ich Jhnen den Jnhalt meiner Vorstel- lungen und trostreichen Betrachtungen vor Augen lege, die ich an die gnädige Fräu- lein gelangen zu lassen gedenke, da sie, wie ich wol sagen mag, ein gelehrtes Frauenzim- mer ist, und ich ihr diese Sentenzen er- klären kann, wovon ihr die Construction unmöglich so geläufig ist: Damit Ew. Hoch- wolgebohren überzeuget werden, (wenn Sie oh- nedem meine Gaben nicht kenneten) wie sehr ich mich zu dem christlichen Werke schicke, zu welchem ich mich selbst vorzuschlagen, mir die Freiheit nehme.
Vors erste, werde ich ihr den gemeinen Lauf der Dinge in dieser unterirdischen Welt zu Gemüthe führen, in welcher Freu- de und Leid, Leid und Freude einander wechselsweise folgen, um sie zu überzeugen, daß der gemeine Lauf der Dinge auch ihren Kummer so mit sich gebracht hat:
Gaudia post luctus veniunt, post gaudia luctus.
Zweitens will ich sie an ihre eigne merk- würdige Beschreibung erinnern, die sie von der Betrübniß gab, da man sie aufforderte, daß sie den Unterschied zwischen Betrübniß, Schmerz und Melancholei angeben soll-
te,
‒ ‒ Fatis debentibus annos Mors inuita ſubit ‒ ‒
Erlauben Sie mir nunmehr, hoher Goͤnner, daß ich Jhnen den Jnhalt meiner Vorſtel- lungen und troſtreichen Betrachtungen vor Augen lege, die ich an die gnaͤdige Fraͤu- lein gelangen zu laſſen gedenke, da ſie, wie ich wol ſagen mag, ein gelehrtes Frauenzim- mer iſt, und ich ihr dieſe Sentenzen er- klaͤren kann, wovon ihr die Conſtruction unmoͤglich ſo gelaͤufig iſt: Damit Ew. Hoch- wolgebohren uͤberzeuget werden, (wenn Sie oh- nedem meine Gaben nicht kenneten) wie ſehr ich mich zu dem chriſtlichen Werke ſchicke, zu welchem ich mich ſelbſt vorzuſchlagen, mir die Freiheit nehme.
Vors erſte, werde ich ihr den gemeinen Lauf der Dinge in dieſer unterirdiſchen Welt zu Gemuͤthe fuͤhren, in welcher Freu- de und Leid, Leid und Freude einander wechſelsweiſe folgen, um ſie zu uͤberzeugen, daß der gemeine Lauf der Dinge auch ihren Kummer ſo mit ſich gebracht hat:
Gaudia poſt luctus veniunt, poſt gaudia luctus.
Zweitens will ich ſie an ihre eigne merk- wuͤrdige Beſchreibung erinnern, die ſie von der Betruͤbniß gab, da man ſie aufforderte, daß ſie den Unterſchied zwiſchen Betruͤbniß, Schmerz und Melancholei angeben ſoll-
te,
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‒ ‒ Fatis debentibus annos
Mors inuita ſubit ‒ ‒
Erlauben Sie mir nunmehr, hoher Goͤnner,
daß ich Jhnen den Jnhalt meiner Vorſtel-
lungen und troſtreichen Betrachtungen
vor Augen lege, die ich an die gnaͤdige Fraͤu-
lein gelangen zu laſſen gedenke, da ſie, wie ich
wol ſagen mag, ein gelehrtes Frauenzim-
mer iſt, und ich ihr dieſe Sentenzen er-
klaͤren kann, wovon ihr die Conſtruction
unmoͤglich ſo gelaͤufig iſt: Damit Ew. Hoch-
wolgebohren uͤberzeuget werden, (wenn Sie oh-
nedem meine Gaben nicht kenneten) wie ſehr
ich mich zu dem chriſtlichen Werke ſchicke,
zu welchem ich mich ſelbſt vorzuſchlagen, mir
die Freiheit nehme.
Vors erſte, werde ich ihr den gemeinen
Lauf der Dinge in dieſer unterirdiſchen
Welt zu Gemuͤthe fuͤhren, in welcher Freu-
de und Leid, Leid und Freude einander
wechſelsweiſe folgen, um ſie zu uͤberzeugen,
daß der gemeine Lauf der Dinge auch ihren
Kummer ſo mit ſich gebracht hat:
Gaudia poſt luctus veniunt, poſt gaudia
luctus.
Zweitens will ich ſie an ihre eigne merk-
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daß ſie den Unterſchied zwiſchen Betruͤbniß,
Schmerz und Melancholei angeben ſoll-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753/263>, abgerufen am 16.02.2025.
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