[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753.schlechts, besonders getadelt ist, daß sie in den obigen Unterredungen ihre Zärtlichkeit übertrie- ben hätte. Allein dies kommt nothwendig da- her, daß man auf die Umstände, darin sie sich befand, auf ihren eignen Charackter, und den Charackter des Mannes, mit welchem sie zu schaffen hatte, nicht aufmerksam ge- nug gewesen ist. Denn ob sie gleich freilich von seinen Absichten nicht so viel wissen konnte, als der Leser aus seinen Briefen an den Herrn Belford erfahren hat: So war sie doch von seinen bösen Grundsätzen zu sehr überzeuget; und sahe aus seinem ganzen Betragen gegen sie die Nothwendigkeit ein, einen solchen Wag- hals, wie sie ihn zuweilen nennet, in einer Entfernung zu halten. Jm Th. III. S. 268. wird der Leser sehen, daß sie, bei einigem gün- stigen Anschein, sich selbst tadelt, sie sei zu fer- tig gewesen, ihn verdächtig zu halten. Doch sagt sie: Wie viel ist an den Grundsätzen zu tadeln, nach denen er handelt? Er ist so leichtsinnig, so veränderlich, so stolz, daß er sich selbst in zwo verschiedenen Stun- den nicht ähnlich ist. Jch habe jetzt keinen Schutz-Engel um mich, keinen Vater, keine Mutter; und muß mich blos auf GOtt und meine Vorsichtigkeit verlas- sen. Jm Th. III. S. 116. am Ende, sagt sie: Wäre es nicht ein Selbst-Verrath, wenn ich bei einem solchen Menschen nicht wach- sam und argwönisch wäre? Jetzt
ſchlechts, beſonders getadelt iſt, daß ſie in den obigen Unterredungen ihre Zaͤrtlichkeit uͤbertrie- ben haͤtte. Allein dies kommt nothwendig da- her, daß man auf die Umſtaͤnde, darin ſie ſich befand, auf ihren eignen Charackter, und den Charackter des Mannes, mit welchem ſie zu ſchaffen hatte, nicht aufmerkſam ge- nug geweſen iſt. Denn ob ſie gleich freilich von ſeinen Abſichten nicht ſo viel wiſſen konnte, als der Leſer aus ſeinen Briefen an den Herrn Belford erfahren hat: So war ſie doch von ſeinen boͤſen Grundſaͤtzen zu ſehr uͤberzeuget; und ſahe aus ſeinem ganzen Betragen gegen ſie die Nothwendigkeit ein, einen ſolchen Wag- hals, wie ſie ihn zuweilen nennet, in einer Entfernung zu halten. Jm Th. III. S. 268. wird der Leſer ſehen, daß ſie, bei einigem guͤn- ſtigen Anſchein, ſich ſelbſt tadelt, ſie ſei zu fer- tig geweſen, ihn verdaͤchtig zu halten. Doch ſagt ſie: Wie viel iſt an den Grundſaͤtzen zu tadeln, nach denen er handelt? Er iſt ſo leichtſinnig, ſo veraͤnderlich, ſo ſtolz, daß er ſich ſelbſt in zwo verſchiedenen Stun- den nicht aͤhnlich iſt. Jch habe jetzt keinen Schutz-Engel um mich, keinen Vater, keine Mutter; und muß mich blos auf GOtt und meine Vorſichtigkeit verlaſ- ſen. Jm Th. III. S. 116. am Ende, ſagt ſie: Waͤre es nicht ein Selbſt-Verrath, wenn ich bei einem ſolchen Menſchen nicht wach- ſam und argwoͤniſch waͤre? Jetzt
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ſchlechts, beſonders getadelt iſt, daß ſie in den
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ben haͤtte. Allein dies kommt nothwendig da-
her, daß man auf die Umſtaͤnde, darin ſie
ſich befand, auf ihren eignen Charackter, und
den Charackter des Mannes, mit welchem
ſie zu ſchaffen hatte, nicht aufmerkſam ge-
nug geweſen iſt. Denn ob ſie gleich freilich
von ſeinen Abſichten nicht ſo viel wiſſen konnte,
als der Leſer aus ſeinen Briefen an den Herrn
Belford erfahren hat: So war ſie doch von
ſeinen boͤſen Grundſaͤtzen zu ſehr uͤberzeuget;
und ſahe aus ſeinem ganzen Betragen gegen ſie
die Nothwendigkeit ein, einen ſolchen Wag-
hals, wie ſie ihn zuweilen nennet, in einer
Entfernung zu halten. Jm Th. III. S. 268.
wird der Leſer ſehen, daß ſie, bei einigem guͤn-
ſtigen Anſchein, ſich ſelbſt tadelt, ſie ſei zu fer-
tig geweſen, ihn verdaͤchtig zu halten. Doch
ſagt ſie: Wie viel iſt an den Grundſaͤtzen
zu tadeln, nach denen er handelt? Er iſt ſo
leichtſinnig, ſo veraͤnderlich, ſo ſtolz, daß
er ſich ſelbſt in zwo verſchiedenen Stun-
den nicht aͤhnlich iſt. Jch habe jetzt keinen
Schutz-Engel um mich, keinen Vater,
keine Mutter; und muß mich blos auf
GOtt und meine Vorſichtigkeit verlaſ-
ſen. Jm Th. III. S. 116. am Ende, ſagt ſie:
Waͤre es nicht ein Selbſt-Verrath, wenn
ich bei einem ſolchen Menſchen nicht wach-
ſam und argwoͤniſch waͤre?
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