ne Exempel anführen, die abscheulich seyn würden, wenn sie nicht so gemein wären. Bei meiner Seele! Bruder, in der menschlichen Natur steckt mehr wilde Grausamkeit, als man gemeiniglich denket. So ist es ja kein grosser Fehler, daß wir zuweilen die unschuldigen Thiere an unserm eignen Geschlecht rächen.
Jch will dir die Exempel geben.
Wie gewöhnlich ist es nicht, daß Männer und Mädgen, (ich will mein Exempel von dem Vogel behalten) ohne den geringsten Gewis- sensbiß, einen besiederten Sänger fangen, in ein Bauer einsperren, ihn martern, und ihm gar mit glühenden Nehnadeln die Augen aus- stechen, der gleichwol im Verhältniß mit sei- ner Grösse, mehr Leben hat, als sie selbst, (denn ein Vogel ist lauter Seele) und also auch mehr Gefühl hat, als ein menschliches Ge- schöpf! Und zu derselben Zeit, wenn ein ehr- licher Kerl das Glück hat, durch die höflichste Ueberredung und sanftesten Künste, ein einge- sperrtes Mädgen zu bewegen, daß sie zu ihrer Flucht mit die Hand bietet, und sie damit eins ist, dem Bauer zu entfliehen, und sich in die alles-erquickende freie Luft zu begeben, Him- mel! welch ein Geschrei wird gegen den er- hoben!
Recht so, wie wir beide einmal in einem elenden Dorfe bei Chelmsford sahen, da ein armer hungriger Fuchs der Gelegenheit war- nahm, eine hagere Gans beim Halse kriegte,
und
ne Exempel anfuͤhren, die abſcheulich ſeyn wuͤrden, wenn ſie nicht ſo gemein waͤren. Bei meiner Seele! Bruder, in der menſchlichen Natur ſteckt mehr wilde Grauſamkeit, als man gemeiniglich denket. So iſt es ja kein groſſer Fehler, daß wir zuweilen die unſchuldigen Thiere an unſerm eignen Geſchlecht raͤchen.
Jch will dir die Exempel geben.
Wie gewoͤhnlich iſt es nicht, daß Maͤnner und Maͤdgen, (ich will mein Exempel von dem Vogel behalten) ohne den geringſten Gewiſ- ſensbiß, einen beſiederten Saͤnger fangen, in ein Bauer einſperren, ihn martern, und ihm gar mit gluͤhenden Nehnadeln die Augen aus- ſtechen, der gleichwol im Verhaͤltniß mit ſei- ner Groͤſſe, mehr Leben hat, als ſie ſelbſt, (denn ein Vogel iſt lauter Seele) und alſo auch mehr Gefuͤhl hat, als ein menſchliches Ge- ſchoͤpf! Und zu derſelben Zeit, wenn ein ehr- licher Kerl das Gluͤck hat, durch die hoͤflichſte Ueberredung und ſanfteſten Kuͤnſte, ein einge- ſperrtes Maͤdgen zu bewegen, daß ſie zu ihrer Flucht mit die Hand bietet, und ſie damit eins iſt, dem Bauer zu entfliehen, und ſich in die alles-erquickende freie Luft zu begeben, Him- mel! welch ein Geſchrei wird gegen den er- hoben!
Recht ſo, wie wir beide einmal in einem elenden Dorfe bei Chelmsford ſahen, da ein armer hungriger Fuchs der Gelegenheit war- nahm, eine hagere Gans beim Halſe kriegte,
und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0134"n="126"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
ne Exempel anfuͤhren, die <hirendition="#fr">abſcheulich</hi>ſeyn<lb/>
wuͤrden, wenn ſie nicht ſo <hirendition="#fr">gemein</hi> waͤren. Bei<lb/>
meiner Seele! Bruder, in der menſchlichen<lb/>
Natur ſteckt mehr wilde Grauſamkeit, als man<lb/>
gemeiniglich denket. So iſt es ja kein groſſer<lb/>
Fehler, daß wir zuweilen die unſchuldigen<lb/>
Thiere an unſerm eignen Geſchlecht raͤchen.</p><lb/><p>Jch will dir die Exempel geben.</p><lb/><p>Wie gewoͤhnlich iſt es nicht, daß Maͤnner<lb/>
und Maͤdgen, (ich will mein Exempel von dem<lb/>
Vogel behalten) ohne den geringſten Gewiſ-<lb/>ſensbiß, einen beſiederten Saͤnger fangen, in<lb/>
ein Bauer einſperren, ihn martern, und ihm<lb/>
gar mit gluͤhenden Nehnadeln die Augen aus-<lb/>ſtechen, der gleichwol im Verhaͤltniß mit ſei-<lb/>
ner Groͤſſe, mehr Leben hat, als ſie ſelbſt,<lb/>
(denn ein Vogel iſt lauter Seele) und alſo auch<lb/>
mehr Gefuͤhl hat, als ein menſchliches Ge-<lb/>ſchoͤpf! Und zu derſelben Zeit, wenn ein ehr-<lb/>
licher Kerl das Gluͤck hat, durch die hoͤflichſte<lb/>
Ueberredung und ſanfteſten Kuͤnſte, ein einge-<lb/>ſperrtes Maͤdgen zu bewegen, daß ſie zu ihrer<lb/>
Flucht mit die Hand bietet, und ſie damit eins<lb/>
iſt, dem Bauer zu entfliehen, und ſich in die<lb/>
alles-erquickende freie Luft zu begeben, Him-<lb/>
mel! welch ein Geſchrei wird gegen den er-<lb/>
hoben!</p><lb/><p>Recht ſo, wie wir beide einmal in einem<lb/>
elenden Dorfe bei <hirendition="#fr">Chelmsford</hi>ſahen, da ein<lb/>
armer hungriger Fuchs der Gelegenheit war-<lb/>
nahm, eine hagere Gans beim Halſe kriegte,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">und</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[126/0134]
ne Exempel anfuͤhren, die abſcheulich ſeyn
wuͤrden, wenn ſie nicht ſo gemein waͤren. Bei
meiner Seele! Bruder, in der menſchlichen
Natur ſteckt mehr wilde Grauſamkeit, als man
gemeiniglich denket. So iſt es ja kein groſſer
Fehler, daß wir zuweilen die unſchuldigen
Thiere an unſerm eignen Geſchlecht raͤchen.
Jch will dir die Exempel geben.
Wie gewoͤhnlich iſt es nicht, daß Maͤnner
und Maͤdgen, (ich will mein Exempel von dem
Vogel behalten) ohne den geringſten Gewiſ-
ſensbiß, einen beſiederten Saͤnger fangen, in
ein Bauer einſperren, ihn martern, und ihm
gar mit gluͤhenden Nehnadeln die Augen aus-
ſtechen, der gleichwol im Verhaͤltniß mit ſei-
ner Groͤſſe, mehr Leben hat, als ſie ſelbſt,
(denn ein Vogel iſt lauter Seele) und alſo auch
mehr Gefuͤhl hat, als ein menſchliches Ge-
ſchoͤpf! Und zu derſelben Zeit, wenn ein ehr-
licher Kerl das Gluͤck hat, durch die hoͤflichſte
Ueberredung und ſanfteſten Kuͤnſte, ein einge-
ſperrtes Maͤdgen zu bewegen, daß ſie zu ihrer
Flucht mit die Hand bietet, und ſie damit eins
iſt, dem Bauer zu entfliehen, und ſich in die
alles-erquickende freie Luft zu begeben, Him-
mel! welch ein Geſchrei wird gegen den er-
hoben!
Recht ſo, wie wir beide einmal in einem
elenden Dorfe bei Chelmsford ſahen, da ein
armer hungriger Fuchs der Gelegenheit war-
nahm, eine hagere Gans beim Halſe kriegte,
und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 8. Göttingen, 1753, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa08_1753/134>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.