leicht nicht das größte Gewicht hat, Schutz zu suchen: indem wir darinn von dem größten Mei- ster in vernünftigen Urtheilen und dem besten Richter über schtiftliche Aufsätze, der jemals ge- lebet hat, gerechtfertigt werden. Der gelehrte Leser weiß schon, daß wir den Aristoteles meynen müssen; dessen Meynung in dieser Sache, wir uns die Erlaubniß ausbitten wollen, mit den Worten eines sehr beliebten Schriftstellers von unserm eignen Volke anzuführen.
"Die englischen Verfasser der Trauerspiele, "sagt Herr Addison(*), sind mit einem Vor- "urtheil eingenommen, daß, wenn sie eine tugend- "hafte oder unschuldige Person im Unglück vor- "stellen, sie dieselbe nicht verlassen müßten, bis sie "dieselbe aus ihren Unruhen gerettet, und zu ei- "nem frohlockenden Sieger über ihre Feinde ge- "macht haben.
"Zu diesem Jrthum sind sie durch eine lä- "cherliche Lehre in den Grundsätzen der neuern "Kunstrichter, daß sie eine gleichmäßige Aus- "theilung der Belohnungen und Strafen und "eine unparteyische Vollziehung der poetischen "Gerechtigkeit zu beobachten, verbunden sind, "verleitet worden.
"Welche die ersten gewesen seyn mögen, die "diese Regel gesetzt haben, weiß ich nicht: aber "ich weiß gewiß, daß sie in der Natur, in der "Vernunft, oder in der Ausübung der Alten "keinen Grund habe.
"Wir
(*) Man sehe den Zuschauer Th. I. Num. XL.
leicht nicht das groͤßte Gewicht hat, Schutz zu ſuchen: indem wir darinn von dem groͤßten Mei- ſter in vernuͤnftigen Urtheilen und dem beſten Richter uͤber ſchtiftliche Aufſaͤtze, der jemals ge- lebet hat, gerechtfertigt werden. Der gelehrte Leſer weiß ſchon, daß wir den Ariſtoteles meynen muͤſſen; deſſen Meynung in dieſer Sache, wir uns die Erlaubniß ausbitten wollen, mit den Worten eines ſehr beliebten Schriftſtellers von unſerm eignen Volke anzufuͤhren.
„Die engliſchen Verfaſſer der Trauerſpiele, „ſagt Herr Addiſon(*), ſind mit einem Vor- „urtheil eingenommen, daß, wenn ſie eine tugend- „hafte oder unſchuldige Perſon im Ungluͤck vor- „ſtellen, ſie dieſelbe nicht verlaſſen muͤßten, bis ſie „dieſelbe aus ihren Unruhen gerettet, und zu ei- „nem frohlockenden Sieger uͤber ihre Feinde ge- „macht haben.
„Zu dieſem Jrthum ſind ſie durch eine laͤ- „cherliche Lehre in den Grundſaͤtzen der neuern „Kunſtrichter, daß ſie eine gleichmaͤßige Aus- „theilung der Belohnungen und Strafen und „eine unparteyiſche Vollziehung der poetiſchen „Gerechtigkeit zu beobachten, verbunden ſind, „verleitet worden.
„Welche die erſten geweſen ſeyn moͤgen, die „dieſe Regel geſetzt haben, weiß ich nicht: aber „ich weiß gewiß, daß ſie in der Natur, in der „Vernunft, oder in der Ausuͤbung der Alten „keinen Grund habe.
„Wir
(*) Man ſehe den Zuſchauer Th. I. Num. XL.
<TEI><text><back><divn="1"><p><pbfacs="#f0902"n="896"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
leicht nicht das groͤßte Gewicht hat, Schutz zu<lb/>ſuchen: indem wir darinn von dem groͤßten Mei-<lb/>ſter in vernuͤnftigen Urtheilen und dem beſten<lb/>
Richter uͤber ſchtiftliche Aufſaͤtze, der jemals ge-<lb/>
lebet hat, gerechtfertigt werden. Der gelehrte<lb/>
Leſer weiß ſchon, daß wir den <hirendition="#fr">Ariſtoteles</hi> meynen<lb/>
muͤſſen; deſſen Meynung in dieſer Sache, wir<lb/>
uns die Erlaubniß ausbitten wollen, mit den<lb/>
Worten eines ſehr beliebten Schriftſtellers von<lb/>
unſerm eignen Volke anzufuͤhren.</p><lb/><p>„Die engliſchen Verfaſſer der Trauerſpiele,<lb/>„<hirendition="#fr">ſagt Herr Addiſon</hi><noteplace="foot"n="(*)">Man ſehe den Zuſchauer Th. <hirendition="#aq">I.</hi> Num. <hirendition="#aq">XL.</hi></note>, ſind mit einem Vor-<lb/>„urtheil eingenommen, daß, wenn ſie eine tugend-<lb/>„hafte oder unſchuldige Perſon im Ungluͤck vor-<lb/>„ſtellen, ſie dieſelbe nicht verlaſſen muͤßten, bis ſie<lb/>„dieſelbe aus ihren Unruhen gerettet, und zu ei-<lb/>„nem frohlockenden Sieger uͤber ihre Feinde ge-<lb/>„macht haben.</p><lb/><p>„Zu dieſem <hirendition="#fr">Jrthum</hi>ſind ſie durch eine <hirendition="#fr">laͤ-<lb/>„cherliche</hi> Lehre in den Grundſaͤtzen der <hirendition="#fr">neuern<lb/>„Kunſtrichter,</hi> daß ſie eine gleichmaͤßige Aus-<lb/>„theilung der <hirendition="#fr">Belohnungen</hi> und <hirendition="#fr">Strafen</hi> und<lb/>„eine unparteyiſche Vollziehung der <hirendition="#fr">poetiſchen<lb/>„Gerechtigkeit</hi> zu beobachten, verbunden ſind,<lb/>„verleitet worden.</p><lb/><p>„Welche die erſten geweſen ſeyn moͤgen, die<lb/>„dieſe Regel geſetzt haben, weiß ich nicht: aber<lb/>„ich weiß gewiß, daß ſie in der <hirendition="#fr">Natur,</hi> in der<lb/>„<hirendition="#fr">Vernunft,</hi> oder in der <hirendition="#fr">Ausuͤbung der Alten</hi><lb/>„keinen Grund habe.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">„Wir</fw><lb/></div></back></text></TEI>
[896/0902]
leicht nicht das groͤßte Gewicht hat, Schutz zu
ſuchen: indem wir darinn von dem groͤßten Mei-
ſter in vernuͤnftigen Urtheilen und dem beſten
Richter uͤber ſchtiftliche Aufſaͤtze, der jemals ge-
lebet hat, gerechtfertigt werden. Der gelehrte
Leſer weiß ſchon, daß wir den Ariſtoteles meynen
muͤſſen; deſſen Meynung in dieſer Sache, wir
uns die Erlaubniß ausbitten wollen, mit den
Worten eines ſehr beliebten Schriftſtellers von
unſerm eignen Volke anzufuͤhren.
„Die engliſchen Verfaſſer der Trauerſpiele,
„ſagt Herr Addiſon (*), ſind mit einem Vor-
„urtheil eingenommen, daß, wenn ſie eine tugend-
„hafte oder unſchuldige Perſon im Ungluͤck vor-
„ſtellen, ſie dieſelbe nicht verlaſſen muͤßten, bis ſie
„dieſelbe aus ihren Unruhen gerettet, und zu ei-
„nem frohlockenden Sieger uͤber ihre Feinde ge-
„macht haben.
„Zu dieſem Jrthum ſind ſie durch eine laͤ-
„cherliche Lehre in den Grundſaͤtzen der neuern
„Kunſtrichter, daß ſie eine gleichmaͤßige Aus-
„theilung der Belohnungen und Strafen und
„eine unparteyiſche Vollziehung der poetiſchen
„Gerechtigkeit zu beobachten, verbunden ſind,
„verleitet worden.
„Welche die erſten geweſen ſeyn moͤgen, die
„dieſe Regel geſetzt haben, weiß ich nicht: aber
„ich weiß gewiß, daß ſie in der Natur, in der
„Vernunft, oder in der Ausuͤbung der Alten
„keinen Grund habe.
„Wir
(*) Man ſehe den Zuſchauer Th. I. Num. XL.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 896. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/902>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.