schenliebe bey sich habe. Daher möchte es nicht undienlich seyn, ihn ein wenig in Betrachtung zu ziehen.
Man kann es auch nicht für unschicklich anse- hen, diese Sache bey dem Schlusse eines Werkes zu berühren, das die Absicht hat, unter dem Vor- wand einer Ergötzung, dem menschlichen Gemü- the die großen Lehren des Christenthums einzu- schärsen: in einem Alter, wie das gegenwärtige ist, welches von den Dichtern und dramatischen Schriftstellern, das ist, von den Verfassern der Werke des Witzes, zu erwarten scheinet, daß sie es zu einer ihrer vornehmsten Regeln machen soll- ten, unter dem Namen der poetischen Gerech- tigkeit eine ganz andere Art der göttlichen Regie- rung fortzupflanzen, als wodurch Gott, wie er uns durch die Offenbarung lehret, für gut befunden hat, die Menschen zu üben; welche er hier nur in einen Stand der Prüfung gesetzet, und deswe- gen das Gute und Böse so untermenget hat, daß es sie nöthiget, auf eine gleichmäßigere Austheilung von beyden in die Zukunft vor sich hinauszusehen.
Die Geschichte oder vielmehr die dramatische Erzählung von der Clarissa ist nach diesem der Religion gemäßen Plan eingerichtet, und ist da- her sattsam deswegen gerechfertiget, daß sie die leidende Tugend nicht eher herausreißet, bis sie ihre vollkommenste Belohnung erlanget.
Allein wir haben nicht nöthig, für unser Ver- fahren unter der Fürschrift der Religion, einem Ansehen, das bey den heutigen Kunstrichtern viel-
leicht
ſchenliebe bey ſich habe. Daher moͤchte es nicht undienlich ſeyn, ihn ein wenig in Betrachtung zu ziehen.
Man kann es auch nicht fuͤr unſchicklich anſe- hen, dieſe Sache bey dem Schluſſe eines Werkes zu beruͤhren, das die Abſicht hat, unter dem Vor- wand einer Ergoͤtzung, dem menſchlichen Gemuͤ- the die großen Lehren des Chriſtenthums einzu- ſchaͤrſen: in einem Alter, wie das gegenwaͤrtige iſt, welches von den Dichtern und dramatiſchen Schriftſtellern, das iſt, von den Verfaſſern der Werke des Witzes, zu erwarten ſcheinet, daß ſie es zu einer ihrer vornehmſten Regeln machen ſoll- ten, unter dem Namen der poetiſchen Gerech- tigkeit eine ganz andere Art der goͤttlichen Regie- rung fortzupflanzen, als wodurch Gott, wie er uns durch die Offenbarung lehret, fuͤr gut befunden hat, die Menſchen zu uͤben; welche er hier nur in einen Stand der Pruͤfung geſetzet, und deswe- gen das Gute und Boͤſe ſo untermenget hat, daß es ſie noͤthiget, auf eine gleichmaͤßigere Austheilung von beyden in die Zukunft vor ſich hinauszuſehen.
Die Geſchichte oder vielmehr die dramatiſche Erzaͤhlung von der Clariſſa iſt nach dieſem der Religion gemaͤßen Plan eingerichtet, und iſt da- her ſattſam deswegen gerechfertiget, daß ſie die leidende Tugend nicht eher herausreißet, bis ſie ihre vollkommenſte Belohnung erlanget.
Allein wir haben nicht noͤthig, fuͤr unſer Ver- fahren unter der Fuͤrſchrift der Religion, einem Anſehen, das bey den heutigen Kunſtrichtern viel-
leicht
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ſchenliebe bey ſich habe. Daher moͤchte es nicht
undienlich ſeyn, ihn ein wenig in Betrachtung zu
ziehen.
Man kann es auch nicht fuͤr unſchicklich anſe-
hen, dieſe Sache bey dem Schluſſe eines Werkes
zu beruͤhren, das die Abſicht hat, unter dem Vor-
wand einer Ergoͤtzung, dem menſchlichen Gemuͤ-
the die großen Lehren des Chriſtenthums einzu-
ſchaͤrſen: in einem Alter, wie das gegenwaͤrtige
iſt, welches von den Dichtern und dramatiſchen
Schriftſtellern, das iſt, von den Verfaſſern der
Werke des Witzes, zu erwarten ſcheinet, daß ſie
es zu einer ihrer vornehmſten Regeln machen ſoll-
ten, unter dem Namen der poetiſchen Gerech-
tigkeit eine ganz andere Art der goͤttlichen Regie-
rung fortzupflanzen, als wodurch Gott, wie er uns
durch die Offenbarung lehret, fuͤr gut befunden
hat, die Menſchen zu uͤben; welche er hier nur in
einen Stand der Pruͤfung geſetzet, und deswe-
gen das Gute und Boͤſe ſo untermenget hat, daß
es ſie noͤthiget, auf eine gleichmaͤßigere Austheilung
von beyden in die Zukunft vor ſich hinauszuſehen.
Die Geſchichte oder vielmehr die dramatiſche
Erzaͤhlung von der Clariſſa iſt nach dieſem der
Religion gemaͤßen Plan eingerichtet, und iſt da-
her ſattſam deswegen gerechfertiget, daß ſie die
leidende Tugend nicht eher herausreißet, bis ſie
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 895. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/901>, abgerufen am 24.11.2024.
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