ich gekannt habe. Es hat niemals ein so vor- treffliches Muster gelebet! - - Eine so feurige und doch so gelassene Freundinn! - - Jn einem so hohen Grade das, was ich zu seyn wünsche: aber niemals seyn werde! - - Denn, leyder! meine Stütze, meine Rathgeberinn, meine Erin- nerinn, meine Aufseherinn, ist dahin! auf bestän- dig dahin!
Sie beehrte mich mit dem Namen ihrer Her- zensschwester. Allein ich war nur eine Schwe- ster von ihr in der Liebe die ich zu ihr trug; einer Liebe, die über alle Schwesterliebe - - unendlich weit über die Liebe ihrer wirklichen Schwester, gegangen ist; in dem Haß, den ich gegen alle nie- derträchtige und unedle Handlungen hege; und in meiner Liebe zur Tugend. - - Denn sonst bin ich von hohem Geiste, und von einer stolzen Ge- müthsart, wie ich schon vorher bekannt habe, und in meinen Leidenschaften sehr heftig.
Kurz; sie kam unter allen Geschöpfen, die ich jemals gekannt habe, der Vollkommenheit am nähesten. Sie predigte mir niemals Lehren vor, die sie nicht selbst ausübte. Sie führte eben das Leben, welches sie zu führen lehrte. Sie war die Demuth, die Holdseligkeit selbst; klagte sich beständig selbst an, und sprach andere los: ob gleich kaum der Schatten von dem Versehen ihr, und das Wesentliche desselben denen beyzumessen war, deren einzige Ehre darinn bestand, daß sie ihre Verwandten waren.
Mußte
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ich gekannt habe. Es hat niemals ein ſo vor- treffliches Muſter gelebet! ‒ ‒ Eine ſo feurige und doch ſo gelaſſene Freundinn! ‒ ‒ Jn einem ſo hohen Grade das, was ich zu ſeyn wuͤnſche: aber niemals ſeyn werde! ‒ ‒ Denn, leyder! meine Stuͤtze, meine Rathgeberinn, meine Erin- nerinn, meine Aufſeherinn, iſt dahin! auf beſtaͤn- dig dahin!
Sie beehrte mich mit dem Namen ihrer Her- zensſchweſter. Allein ich war nur eine Schwe- ſter von ihr in der Liebe die ich zu ihr trug; einer Liebe, die uͤber alle Schweſterliebe ‒ ‒ unendlich weit uͤber die Liebe ihrer wirklichen Schweſter, gegangen iſt; in dem Haß, den ich gegen alle nie- dertraͤchtige und unedle Handlungen hege; und in meiner Liebe zur Tugend. ‒ ‒ Denn ſonſt bin ich von hohem Geiſte, und von einer ſtolzen Ge- muͤthsart, wie ich ſchon vorher bekannt habe, und in meinen Leidenſchaften ſehr heftig.
Kurz; ſie kam unter allen Geſchoͤpfen, die ich jemals gekannt habe, der Vollkommenheit am naͤheſten. Sie predigte mir niemals Lehren vor, die ſie nicht ſelbſt ausuͤbte. Sie fuͤhrte eben das Leben, welches ſie zu fuͤhren lehrte. Sie war die Demuth, die Holdſeligkeit ſelbſt; klagte ſich beſtaͤndig ſelbſt an, und ſprach andere los: ob gleich kaum der Schatten von dem Verſehen ihr, und das Weſentliche deſſelben denen beyzumeſſen war, deren einzige Ehre darinn beſtand, daß ſie ihre Verwandten waren.
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ich gekannt habe. Es hat niemals ein ſo vor-
treffliches Muſter gelebet! ‒ ‒ Eine ſo feurige
und doch ſo gelaſſene Freundinn! ‒ ‒ Jn einem
ſo hohen Grade das, was ich zu ſeyn wuͤnſche:
aber niemals ſeyn werde! ‒ ‒ Denn, leyder!
meine Stuͤtze, meine Rathgeberinn, meine Erin-
nerinn, meine Aufſeherinn, iſt dahin! auf beſtaͤn-
dig dahin!
Sie beehrte mich mit dem Namen ihrer Her-
zensſchweſter. Allein ich war nur eine Schwe-
ſter von ihr in der Liebe die ich zu ihr trug; einer
Liebe, die uͤber alle Schweſterliebe ‒ ‒ unendlich
weit uͤber die Liebe ihrer wirklichen Schweſter,
gegangen iſt; in dem Haß, den ich gegen alle nie-
dertraͤchtige und unedle Handlungen hege; und
in meiner Liebe zur Tugend. ‒ ‒ Denn ſonſt bin
ich von hohem Geiſte, und von einer ſtolzen Ge-
muͤthsart, wie ich ſchon vorher bekannt habe, und
in meinen Leidenſchaften ſehr heftig.
Kurz; ſie kam unter allen Geſchoͤpfen, die
ich jemals gekannt habe, der Vollkommenheit am
naͤheſten. Sie predigte mir niemals Lehren vor,
die ſie nicht ſelbſt ausuͤbte. Sie fuͤhrte eben das
Leben, welches ſie zu fuͤhren lehrte. Sie war
die Demuth, die Holdſeligkeit ſelbſt; klagte ſich
beſtaͤndig ſelbſt an, und ſprach andere los: ob
gleich kaum der Schatten von dem Verſehen ihr,
und das Weſentliche deſſelben denen beyzumeſſen
war, deren einzige Ehre darinn beſtand, daß ſie
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 825. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/831>, abgerufen am 24.11.2024.
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