Der vier und achtzigste Brief von Herrn Belford an Herrn Wilhelm Morden.
Sonnab. den 16ten Sept.
Werthester Herr.
Jch hatte einmal die Gedanken, in geheim hin- unter zu gehen, um versteckt die Vollzie- hung des letzten Liebesdienstes anzusehen. Allein es ist nicht nöthig gewesen, daß ich mir selbst diese betrübte Mühe gemacht hätte: indem Jhr letzter Brief alles, was vorgegangen ist, so natürlich be- schreibet, daß ich einen jeden Auftritt vor meinen Augen habe.
Sie bringen mich, mein Herr, wie mich deucht, mitten unter das stille und langsame Gefolge - - Bald trete ich mit der geheiligten Bahre in den ehrfurchtswürdigen Vorhof. Bald messe ich, mit feyerlichen Schritten das ehrerbietungswürdige Chor der Kirche. Bald eifre ich einem nahen Verwandten von ihr nach, und lausche in einem Stuhle nahe bey dem Sarge, auf den aller Au- gen gezogen werden, auf die bewegliche Lobrede. Bald steige ich durch den Schwarm von starre sehenden Leuten, durch einen Haufen mit aufge- schwollenen Augen in die feuchte Gruft, als ein
treuer
Der vier und achtzigſte Brief von Herrn Belford an Herrn Wilhelm Morden.
Sonnab. den 16ten Sept.
Wertheſter Herr.
Jch hatte einmal die Gedanken, in geheim hin- unter zu gehen, um verſteckt die Vollzie- hung des letzten Liebesdienſtes anzuſehen. Allein es iſt nicht noͤthig geweſen, daß ich mir ſelbſt dieſe betruͤbte Muͤhe gemacht haͤtte: indem Jhr letzter Brief alles, was vorgegangen iſt, ſo natuͤrlich be- ſchreibet, daß ich einen jeden Auftritt vor meinen Augen habe.
Sie bringen mich, mein Herr, wie mich deucht, mitten unter das ſtille und langſame Gefolge ‒ ‒ Bald trete ich mit der geheiligten Bahre in den ehrfurchtswuͤrdigen Vorhof. Bald meſſe ich, mit feyerlichen Schritten das ehrerbietungswuͤrdige Chor der Kirche. Bald eifre ich einem nahen Verwandten von ihr nach, und lauſche in einem Stuhle nahe bey dem Sarge, auf den aller Au- gen gezogen werden, auf die bewegliche Lobrede. Bald ſteige ich durch den Schwarm von ſtarre ſehenden Leuten, durch einen Haufen mit aufge- ſchwollenen Augen in die feuchte Gruft, als ein
treuer
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Der vier und achtzigſte Brief
von
Herrn Belford an Herrn Wilhelm
Morden.
Sonnab. den 16ten Sept.
Wertheſter Herr.
Jch hatte einmal die Gedanken, in geheim hin-
unter zu gehen, um verſteckt die Vollzie-
hung des letzten Liebesdienſtes anzuſehen. Allein
es iſt nicht noͤthig geweſen, daß ich mir ſelbſt dieſe
betruͤbte Muͤhe gemacht haͤtte: indem Jhr letzter
Brief alles, was vorgegangen iſt, ſo natuͤrlich be-
ſchreibet, daß ich einen jeden Auftritt vor meinen
Augen habe.
Sie bringen mich, mein Herr, wie mich deucht,
mitten unter das ſtille und langſame Gefolge ‒ ‒
Bald trete ich mit der geheiligten Bahre in den
ehrfurchtswuͤrdigen Vorhof. Bald meſſe ich, mit
feyerlichen Schritten das ehrerbietungswuͤrdige
Chor der Kirche. Bald eifre ich einem nahen
Verwandten von ihr nach, und lauſche in einem
Stuhle nahe bey dem Sarge, auf den aller Au-
gen gezogen werden, auf die bewegliche Lobrede.
Bald ſteige ich durch den Schwarm von ſtarre
ſehenden Leuten, durch einen Haufen mit aufge-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/618>, abgerufen am 23.11.2024.
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