Nur die Zeit allein, Herr Belford, kann ei- nen so schweren Verlust, als dieß ist, mit gutem Erfolg bestreiten. Guter Rath und freundschaft- liches Zureden wird nichts helfen: so lange der Verlust noch neu ist. Die Natur will, daß ihr ihre Freyheit gelassen werde, und so muß es auch seyn, bis der Schmerz sich gewissermaßen selbst er- schöpfet hat. Alsdenn wird erst die gelegne Zeit seyn, da Vernunft und Religion mit ihrer kräfti- gen Hülfe hervortreten können, die matten Her- zen aufzurichten.
Jch sehe hier kein einziges Gesicht so, wie es bey meiner ersten Ankunft war. Damals sahe ein jeder stolz und übermüthig aus, und wollte keinem Bitten Raum geben. Wie sehr sind sie aber nun gedemüthigt! - - Jn einem jeden ver- längerten Gesichtszuge, in einer jeden aufgeschwol- lenen Muskel eines jeden der untröstlichen Leid- tragenden entdeckte sich der äußerste Jammer. Jhre Augen, welche noch vor so kurzer Zeit Zorn und Unwillen strahlten, wenden sich nun zu einem jeden, der sich ihnen nähert, als wenn sie um Mit- leiden fleheten! - - Hat wohl jemals eine vorsetzliche Hartherzigkeit schärfer gestraft werden können?
Die solgenden Zeilen Juvenals lassen sich überhaupt auf dieß Haus und diese Familie an- wenden. Jch habe sie vielmal seit Sonntags Abends überdacht.
Humani
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Nur die Zeit allein, Herr Belford, kann ei- nen ſo ſchweren Verluſt, als dieß iſt, mit gutem Erfolg beſtreiten. Guter Rath und freundſchaft- liches Zureden wird nichts helfen: ſo lange der Verluſt noch neu iſt. Die Natur will, daß ihr ihre Freyheit gelaſſen werde, und ſo muß es auch ſeyn, bis der Schmerz ſich gewiſſermaßen ſelbſt er- ſchoͤpfet hat. Alsdenn wird erſt die gelegne Zeit ſeyn, da Vernunft und Religion mit ihrer kraͤfti- gen Huͤlfe hervortreten koͤnnen, die matten Her- zen aufzurichten.
Jch ſehe hier kein einziges Geſicht ſo, wie es bey meiner erſten Ankunft war. Damals ſahe ein jeder ſtolz und uͤbermuͤthig aus, und wollte keinem Bitten Raum geben. Wie ſehr ſind ſie aber nun gedemuͤthigt! ‒ ‒ Jn einem jeden ver- laͤngerten Geſichtszuge, in einer jeden aufgeſchwol- lenen Muskel eines jeden der untroͤſtlichen Leid- tragenden entdeckte ſich der aͤußerſte Jammer. Jhre Augen, welche noch vor ſo kurzer Zeit Zorn und Unwillen ſtrahlten, wenden ſich nun zu einem jeden, der ſich ihnen naͤhert, als wenn ſie um Mit- leiden fleheten! ‒ ‒ Hat wohl jemals eine vorſetzliche Hartherzigkeit ſchaͤrfer geſtraft werden koͤnnen?
Die ſolgenden Zeilen Juvenals laſſen ſich uͤberhaupt auf dieß Haus und dieſe Familie an- wenden. Jch habe ſie vielmal ſeit Sonntags Abends uͤberdacht.
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Nur die Zeit allein, Herr Belford, kann ei-
nen ſo ſchweren Verluſt, als dieß iſt, mit gutem
Erfolg beſtreiten. Guter Rath und freundſchaft-
liches Zureden wird nichts helfen: ſo lange der
Verluſt noch neu iſt. Die Natur will, daß ihr
ihre Freyheit gelaſſen werde, und ſo muß es auch
ſeyn, bis der Schmerz ſich gewiſſermaßen ſelbſt er-
ſchoͤpfet hat. Alsdenn wird erſt die gelegne Zeit
ſeyn, da Vernunft und Religion mit ihrer kraͤfti-
gen Huͤlfe hervortreten koͤnnen, die matten Her-
zen aufzurichten.
Jch ſehe hier kein einziges Geſicht ſo, wie es
bey meiner erſten Ankunft war. Damals ſahe
ein jeder ſtolz und uͤbermuͤthig aus, und wollte
keinem Bitten Raum geben. Wie ſehr ſind ſie
aber nun gedemuͤthigt! ‒ ‒ Jn einem jeden ver-
laͤngerten Geſichtszuge, in einer jeden aufgeſchwol-
lenen Muskel eines jeden der untroͤſtlichen Leid-
tragenden entdeckte ſich der aͤußerſte Jammer.
Jhre Augen, welche noch vor ſo kurzer Zeit Zorn
und Unwillen ſtrahlten, wenden ſich nun zu einem
jeden, der ſich ihnen naͤhert, als wenn ſie um Mit-
leiden fleheten! ‒ ‒ Hat wohl jemals eine
vorſetzliche Hartherzigkeit ſchaͤrfer geſtraft
werden koͤnnen?
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 601. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/607>, abgerufen am 22.11.2024.
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