ter der Zeit beunruhiget, zehnmal mehr Jammer auszustehen haben, als diejenigen ausstehen kön- nen, die bey demselben gegenwärtig sind, und das Aergste sehen und wissen. So viel größer sind die Uebel, welche wir fürchten, als die, welche wir sehen! - - Und so geschickt ist die Einbildung, die unmittelbarere Geburth der Seelen, das, was wirklich geschiehet, zu übersteigen, der Vorfall sey nun freudig oder traurig.
Eben daher kommt es auch, wie ich mir vor- stelle, daß alle Vergnügungen größer sind, wenn man sie erwartet, oder sich ihrer nach diesem wieder erinnert, als wenn man sie genießet: gleichwie alle Schmerzen, welche beyde Theile der ungleichen Vereinigung, wodurch die hin- fällige Sterblichkeit ihren ungewissen Bestand hat, heftig drücken, gemeiniglich in der gegen- wärtigen Zeit am schärfsten sind; denn wie wenig macht man sich aus den schweresten Un- glücksfällen, wenn man sich ihrer wieder er- rinnert, sonderlich nachdem sie überstanden sind! - - Jedoch, gestehe ich, macht man sich am we- nigsten aus denen, an welchen der Leib mehr Theil hat, als die Seele. Allein dieß ist ein Stück aus der Weltweisheit, das ich itzo eben we- der Zeit mich Geschicklichkeit habe zu erwägen: Daher nimm es so, wie es aus der Feder eines Unsinnigen kommt.
Wehe einem jeden der Elenden, welcher mir die unglückliche Zeitung bringen soll, daß sie nicht mehr da ist! Denn es ist nur mehr als zu wahr-
schein-
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ter der Zeit beunruhiget, zehnmal mehr Jammer auszuſtehen haben, als diejenigen ausſtehen koͤn- nen, die bey demſelben gegenwaͤrtig ſind, und das Aergſte ſehen und wiſſen. So viel groͤßer ſind die Uebel, welche wir fuͤrchten, als die, welche wir ſehen! ‒ ‒ Und ſo geſchickt iſt die Einbildung, die unmittelbarere Geburth der Seelen, das, was wirklich geſchiehet, zu uͤberſteigen, der Vorfall ſey nun freudig oder traurig.
Eben daher kommt es auch, wie ich mir vor- ſtelle, daß alle Vergnuͤgungen groͤßer ſind, wenn man ſie erwartet, oder ſich ihrer nach dieſem wieder erinnert, als wenn man ſie genießet: gleichwie alle Schmerzen, welche beyde Theile der ungleichen Vereinigung, wodurch die hin- faͤllige Sterblichkeit ihren ungewiſſen Beſtand hat, heftig druͤcken, gemeiniglich in der gegen- waͤrtigen Zeit am ſchaͤrfſten ſind; denn wie wenig macht man ſich aus den ſchwereſten Un- gluͤcksfaͤllen, wenn man ſich ihrer wieder er- rinnert, ſonderlich nachdem ſie uͤberſtanden ſind! ‒ ‒ Jedoch, geſtehe ich, macht man ſich am we- nigſten aus denen, an welchen der Leib mehr Theil hat, als die Seele. Allein dieß iſt ein Stuͤck aus der Weltweisheit, das ich itzo eben we- der Zeit mich Geſchicklichkeit habe zu erwaͤgen: Daher nimm es ſo, wie es aus der Feder eines Unſinnigen kommt.
Wehe einem jeden der Elenden, welcher mir die ungluͤckliche Zeitung bringen ſoll, daß ſie nicht mehr da iſt! Denn es iſt nur mehr als zu wahr-
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ter der Zeit beunruhiget, zehnmal mehr Jammer
auszuſtehen haben, als diejenigen ausſtehen koͤn-
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Aergſte ſehen und wiſſen. So viel groͤßer ſind
die Uebel, welche wir fuͤrchten, als die, welche wir
ſehen! ‒ ‒ Und ſo geſchickt iſt die Einbildung,
die unmittelbarere Geburth der Seelen, das, was
wirklich geſchiehet, zu uͤberſteigen, der Vorfall ſey
nun freudig oder traurig.
Eben daher kommt es auch, wie ich mir vor-
ſtelle, daß alle Vergnuͤgungen groͤßer ſind, wenn
man ſie erwartet, oder ſich ihrer nach dieſem
wieder erinnert, als wenn man ſie genießet:
gleichwie alle Schmerzen, welche beyde Theile
der ungleichen Vereinigung, wodurch die hin-
faͤllige Sterblichkeit ihren ungewiſſen Beſtand
hat, heftig druͤcken, gemeiniglich in der gegen-
waͤrtigen Zeit am ſchaͤrfſten ſind; denn wie
wenig macht man ſich aus den ſchwereſten Un-
gluͤcksfaͤllen, wenn man ſich ihrer wieder er-
rinnert, ſonderlich nachdem ſie uͤberſtanden ſind!
‒ ‒ Jedoch, geſtehe ich, macht man ſich am we-
nigſten aus denen, an welchen der Leib mehr
Theil hat, als die Seele. Allein dieß iſt ein
Stuͤck aus der Weltweisheit, das ich itzo eben we-
der Zeit mich Geſchicklichkeit habe zu erwaͤgen:
Daher nimm es ſo, wie es aus der Feder eines
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/377>, abgerufen am 22.11.2024.
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