ihm vergeben und seine Hand annehmen möch- te. Das letzte Stück ihrer Fürbitte kann ich zwar nicht erfüllen: aber haben Sie, mein Herr, mich nicht nach den besten Regeln und den gött- lichsten Beyspielen gelehret, Beleidigungen zu vergeben?
Die Beleidigung, welche mir von ihm wider- fahren ist, ist freylich von der wichtigsten Art und war mit Umständen von unmenschlicher Nieder- trächtigkeit und vorsetzlicher Bosheit verknüpft: dennoch hat sie, Gott sey Dank, mein Gemüth nicht beflecket, meine Tugend nicht verletzet. Dem gottlosen Menschen habe ich es in der That nicht zu danken, daß es nicht geschehen ist. Es sind keine schändliche Gewohnheiten darauf gefolget. Mein Wille ist unverletzet. Das Uebel ist bloß etwas persönliches, wenn ich auf mich selbst, und nicht auf meine Freunde sehe. Keine Leicht- gläubigkeit, keine Schwachheit, keinen Mangel der Wachsamkeit habe ich mir selbst vorzuwerfen. Jch habe, durch die Gnade, den Sieg über die durchtriebensten Anschläge davon getragen. Jch bin aus seinen Händen entgangen. Jch habe ihm entsaget. Den Menschen, welchen ich ehe- mals hätte lieben können, bin ich im Stande ge- wesen zu verachten. Soll nun die christliche Liebe meinen Sieg nicht vollkommen machen? Und soll ich desselben nicht genießen? - - Wo würde aber mein Sieg seyn: wenn er Vergebung von mir verdiente? - - Der elende Mensch! Er hat wirklich einen Verlust gelitten, da er mich
ver-
ihm vergeben und ſeine Hand annehmen moͤch- te. Das letzte Stuͤck ihrer Fuͤrbitte kann ich zwar nicht erfuͤllen: aber haben Sie, mein Herr, mich nicht nach den beſten Regeln und den goͤtt- lichſten Beyſpielen gelehret, Beleidigungen zu vergeben?
Die Beleidigung, welche mir von ihm wider- fahren iſt, iſt freylich von der wichtigſten Art und war mit Umſtaͤnden von unmenſchlicher Nieder- traͤchtigkeit und vorſetzlicher Bosheit verknuͤpft: dennoch hat ſie, Gott ſey Dank, mein Gemuͤth nicht beflecket, meine Tugend nicht verletzet. Dem gottloſen Menſchen habe ich es in der That nicht zu danken, daß es nicht geſchehen iſt. Es ſind keine ſchaͤndliche Gewohnheiten darauf gefolget. Mein Wille iſt unverletzet. Das Uebel iſt bloß etwas perſoͤnliches, wenn ich auf mich ſelbſt, und nicht auf meine Freunde ſehe. Keine Leicht- glaͤubigkeit, keine Schwachheit, keinen Mangel der Wachſamkeit habe ich mir ſelbſt vorzuwerfen. Jch habe, durch die Gnade, den Sieg uͤber die durchtriebenſten Anſchlaͤge davon getragen. Jch bin aus ſeinen Haͤnden entgangen. Jch habe ihm entſaget. Den Menſchen, welchen ich ehe- mals haͤtte lieben koͤnnen, bin ich im Stande ge- weſen zu verachten. Soll nun die chriſtliche Liebe meinen Sieg nicht vollkommen machen? Und ſoll ich deſſelben nicht genießen? ‒ ‒ Wo wuͤrde aber mein Sieg ſeyn: wenn er Vergebung von mir verdiente? ‒ ‒ Der elende Menſch! Er hat wirklich einen Verluſt gelitten, da er mich
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ihm vergeben und ſeine Hand annehmen moͤch-
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mich nicht nach den beſten Regeln und den goͤtt-
lichſten Beyſpielen gelehret, Beleidigungen zu
vergeben?
Die Beleidigung, welche mir von ihm wider-
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war mit Umſtaͤnden von unmenſchlicher Nieder-
traͤchtigkeit und vorſetzlicher Bosheit verknuͤpft:
dennoch hat ſie, Gott ſey Dank, mein Gemuͤth
nicht beflecket, meine Tugend nicht verletzet. Dem
gottloſen Menſchen habe ich es in der That nicht
zu danken, daß es nicht geſchehen iſt. Es ſind
keine ſchaͤndliche Gewohnheiten darauf gefolget.
Mein Wille iſt unverletzet. Das Uebel iſt bloß
etwas perſoͤnliches, wenn ich auf mich ſelbſt,
und nicht auf meine Freunde ſehe. Keine Leicht-
glaͤubigkeit, keine Schwachheit, keinen Mangel
der Wachſamkeit habe ich mir ſelbſt vorzuwerfen.
Jch habe, durch die Gnade, den Sieg uͤber die
durchtriebenſten Anſchlaͤge davon getragen. Jch
bin aus ſeinen Haͤnden entgangen. Jch habe
ihm entſaget. Den Menſchen, welchen ich ehe-
mals haͤtte lieben koͤnnen, bin ich im Stande ge-
weſen zu verachten. Soll nun die chriſtliche
Liebe meinen Sieg nicht vollkommen machen?
Und ſoll ich deſſelben nicht genießen? ‒ ‒ Wo
wuͤrde aber mein Sieg ſeyn: wenn er Vergebung
von mir verdiente? ‒ ‒ Der elende Menſch!
Er hat wirklich einen Verluſt gelitten, da er mich
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/110>, abgerufen am 23.11.2024.
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