Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite


Sie haben gehört, daß ich krank gewesen sey,
schreiben Sie. Es ist wahr, ich habe einen An-
stoß vom kalten Fieber gehabt: allein es war so
wenig, daß es mich kaum eine Stunde im Bette
zu seyn genöthiget hat. Aber ich zweifle nicht,
daß Sie wunderliche Dinge gehört, und sich ha-
ben erzählen lassen müssen, damit Sie beredet
werden könnten, den Schritt zu thun, den Sie
gethan haben. So lange, bis Sie diesen Schritt
gethan hatten; ich meyne, bis Sie mit dem nie-
derträchtigen Kerl wieder zurück gegangen waren;
habe ich keine Begebenheit gewußt, die mehr Mit-
leiden verdiente, als Jhr Zufall. - - Denn vor-
her mußte Sie ein jeder entschuldiget haben, der
nur gewußt, wie man zu Hause mit Jhnen um-
gegangen, und Jhre Klugheit und Wachsamkeit
gekannt hätte. Aber nun leider! meine Werthe,
sehen wir, daß man sich auch auf die weisesten
Leute
nicht verlassen kann, wenn die Liebe,
wie ein Jrrwisch, ihr verführerisches Feuer den
Augen vorhält.

Meine Mutter sagt mir, sie habe Jhnen ge-
antwortet, und Sie gebeten, nicht an mich zu
schreiben, weil es mich nur kränken würde. Ge-
wiß ich bin gekränket, über alle Maßen gekrän-
ket, und noch dazu in meiner Hoffnung betro-
gen;
das müssen Sie mir erlauben zu sagen:
denn ich hatte allezeit gedacht, daß niemals ein
solches Frauenzimmer, als Sie, bey Jhren Jah-
ren, in der Welt gewesen wäre.

Jedoch
F 2


Sie haben gehoͤrt, daß ich krank geweſen ſey,
ſchreiben Sie. Es iſt wahr, ich habe einen An-
ſtoß vom kalten Fieber gehabt: allein es war ſo
wenig, daß es mich kaum eine Stunde im Bette
zu ſeyn genoͤthiget hat. Aber ich zweifle nicht,
daß Sie wunderliche Dinge gehoͤrt, und ſich ha-
ben erzaͤhlen laſſen muͤſſen, damit Sie beredet
werden koͤnnten, den Schritt zu thun, den Sie
gethan haben. So lange, bis Sie dieſen Schritt
gethan hatten; ich meyne, bis Sie mit dem nie-
dertraͤchtigen Kerl wieder zuruͤck gegangen waren;
habe ich keine Begebenheit gewußt, die mehr Mit-
leiden verdiente, als Jhr Zufall. ‒ ‒ Denn vor-
her mußte Sie ein jeder entſchuldiget haben, der
nur gewußt, wie man zu Hauſe mit Jhnen um-
gegangen, und Jhre Klugheit und Wachſamkeit
gekannt haͤtte. Aber nun leider! meine Werthe,
ſehen wir, daß man ſich auch auf die weiſeſten
Leute
nicht verlaſſen kann, wenn die Liebe,
wie ein Jrrwiſch, ihr verfuͤhreriſches Feuer den
Augen vorhaͤlt.

Meine Mutter ſagt mir, ſie habe Jhnen ge-
antwortet, und Sie gebeten, nicht an mich zu
ſchreiben, weil es mich nur kraͤnken wuͤrde. Ge-
wiß ich bin gekraͤnket, uͤber alle Maßen gekraͤn-
ket, und noch dazu in meiner Hoffnung betro-
gen;
das muͤſſen Sie mir erlauben zu ſagen:
denn ich hatte allezeit gedacht, daß niemals ein
ſolches Frauenzimmer, als Sie, bey Jhren Jah-
ren, in der Welt geweſen waͤre.

Jedoch
F 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0089" n="83"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Sie haben geho&#x0364;rt, daß ich krank gewe&#x017F;en &#x017F;ey,<lb/>
&#x017F;chreiben Sie. Es i&#x017F;t wahr, ich habe einen An-<lb/>
&#x017F;toß vom kalten Fieber gehabt: allein es war &#x017F;o<lb/>
wenig, daß es mich kaum eine Stunde im Bette<lb/>
zu &#x017F;eyn geno&#x0364;thiget hat. Aber ich zweifle nicht,<lb/>
daß Sie wunderliche Dinge <hi rendition="#fr">geho&#x0364;rt,</hi> und <hi rendition="#fr">&#x017F;ich</hi> ha-<lb/>
ben <hi rendition="#fr">erza&#x0364;hlen la&#x017F;&#x017F;en mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en,</hi> damit Sie beredet<lb/>
werden ko&#x0364;nnten, den Schritt zu thun, den Sie<lb/>
gethan haben. So lange, bis Sie die&#x017F;en Schritt<lb/>
gethan hatten; ich meyne, bis Sie mit dem nie-<lb/>
dertra&#x0364;chtigen Kerl wieder zuru&#x0364;ck gegangen waren;<lb/>
habe ich keine Begebenheit gewußt, die mehr Mit-<lb/>
leiden verdiente, als Jhr Zufall. &#x2012; &#x2012; Denn vor-<lb/>
her mußte Sie ein jeder ent&#x017F;chuldiget haben, der<lb/>
nur gewußt, wie man zu Hau&#x017F;e mit Jhnen um-<lb/>
gegangen, und Jhre Klugheit und Wach&#x017F;amkeit<lb/>
gekannt ha&#x0364;tte. Aber nun leider! meine Werthe,<lb/>
&#x017F;ehen wir, daß man &#x017F;ich auch auf die <hi rendition="#fr">wei&#x017F;e&#x017F;ten<lb/>
Leute</hi> nicht verla&#x017F;&#x017F;en kann, wenn die <hi rendition="#fr">Liebe,</hi><lb/>
wie ein <hi rendition="#fr">Jrrwi&#x017F;ch,</hi> ihr verfu&#x0364;hreri&#x017F;ches Feuer den<lb/>
Augen vorha&#x0364;lt.</p><lb/>
          <p>Meine Mutter &#x017F;agt mir, &#x017F;ie habe Jhnen ge-<lb/>
antwortet, und Sie gebeten, nicht an mich zu<lb/>
&#x017F;chreiben, weil es mich nur kra&#x0364;nken wu&#x0364;rde. Ge-<lb/>
wiß ich bin gekra&#x0364;nket, <hi rendition="#fr">u&#x0364;ber alle Maßen</hi> gekra&#x0364;n-<lb/>
ket, und noch dazu <hi rendition="#fr">in meiner Hoffnung betro-<lb/>
gen;</hi> das mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en Sie mir erlauben zu &#x017F;agen:<lb/>
denn ich hatte allezeit gedacht, daß niemals ein<lb/>
&#x017F;olches Frauenzimmer, als Sie, bey Jhren Jah-<lb/>
ren, in der Welt gewe&#x017F;en wa&#x0364;re.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">F 2</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">Jedoch</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[83/0089] Sie haben gehoͤrt, daß ich krank geweſen ſey, ſchreiben Sie. Es iſt wahr, ich habe einen An- ſtoß vom kalten Fieber gehabt: allein es war ſo wenig, daß es mich kaum eine Stunde im Bette zu ſeyn genoͤthiget hat. Aber ich zweifle nicht, daß Sie wunderliche Dinge gehoͤrt, und ſich ha- ben erzaͤhlen laſſen muͤſſen, damit Sie beredet werden koͤnnten, den Schritt zu thun, den Sie gethan haben. So lange, bis Sie dieſen Schritt gethan hatten; ich meyne, bis Sie mit dem nie- dertraͤchtigen Kerl wieder zuruͤck gegangen waren; habe ich keine Begebenheit gewußt, die mehr Mit- leiden verdiente, als Jhr Zufall. ‒ ‒ Denn vor- her mußte Sie ein jeder entſchuldiget haben, der nur gewußt, wie man zu Hauſe mit Jhnen um- gegangen, und Jhre Klugheit und Wachſamkeit gekannt haͤtte. Aber nun leider! meine Werthe, ſehen wir, daß man ſich auch auf die weiſeſten Leute nicht verlaſſen kann, wenn die Liebe, wie ein Jrrwiſch, ihr verfuͤhreriſches Feuer den Augen vorhaͤlt. Meine Mutter ſagt mir, ſie habe Jhnen ge- antwortet, und Sie gebeten, nicht an mich zu ſchreiben, weil es mich nur kraͤnken wuͤrde. Ge- wiß ich bin gekraͤnket, uͤber alle Maßen gekraͤn- ket, und noch dazu in meiner Hoffnung betro- gen; das muͤſſen Sie mir erlauben zu ſagen: denn ich hatte allezeit gedacht, daß niemals ein ſolches Frauenzimmer, als Sie, bey Jhren Jah- ren, in der Welt geweſen waͤre. Jedoch F 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/89
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/89>, abgerufen am 16.07.2024.