Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



lichsten Personen ihres Geschlechts. Aber die
schöne Bußfertige, wie sie heißt, stirbt durch ihre
eigne Hand: und da sie ihrer begangenen Laster
wegen schon auf kein rühmliches Mitleiden An-
spruch machen konnte, verscherzt sie hierdurch auch
alles Recht wahrhaftig bußfertig genannt zu
werden, und nach der höchsten Wahrscheinlichkeit
alles Recht, in jener Welt Barmherzigkeit zu
erlangen.

Hingegen hier ist Fräulein Harlowe, eine
tugendhaste, edelmüthige, weise, gottselige Person,
die unglücklicher Weise durch die Gelübde und
Eidschwüre eines schändlichen und liederlichen
Kerls, den sie für einen ehrliebenden Mann an-
siehet, verstricket wird. Weil ihr um seinet wil-
len übel von ihren Freunden begegnet wird: ist
sie gewissermaßen gezwungen, sich in seinen Schutz
zu begeben. Er macht sich niemals über die höch-
sten und feuerlichsten Betheurungen der Ehre ein
Bedenken, damit er sie zu einem Vertrauen zu
ihm bewegen möge. Nach einer Reihe von Rän-
ken und Erfindungen, die alle durch ihre Tugend
und Wachsamkeit zu schanden gemacht sind,
nimmt er auf eine niederträchtige Art seine Zu-
flucht zu den schändlichsten Künsten, und ist ge-
nöthigt, damit er ihr die Ehre rauben könne, sie
erst ihrer Sinne zu berauben. Nichts desto we-
niger kann er sie nicht zu seinen unedlen Absichten
der Vertraulichkeit außer der Ehe bewegen. Sie
hält ihn durch eingeflößte Ehrfurcht gegen sie
von einer neuen Unternehmung eines vorsetzlichen

Ver-



lichſten Perſonen ihres Geſchlechts. Aber die
ſchoͤne Bußfertige, wie ſie heißt, ſtirbt durch ihre
eigne Hand: und da ſie ihrer begangenen Laſter
wegen ſchon auf kein ruͤhmliches Mitleiden An-
ſpruch machen konnte, verſcherzt ſie hierdurch auch
alles Recht wahrhaftig bußfertig genannt zu
werden, und nach der hoͤchſten Wahrſcheinlichkeit
alles Recht, in jener Welt Barmherzigkeit zu
erlangen.

Hingegen hier iſt Fraͤulein Harlowe, eine
tugendhaſte, edelmuͤthige, weiſe, gottſelige Perſon,
die ungluͤcklicher Weiſe durch die Geluͤbde und
Eidſchwuͤre eines ſchaͤndlichen und liederlichen
Kerls, den ſie fuͤr einen ehrliebenden Mann an-
ſiehet, verſtricket wird. Weil ihr um ſeinet wil-
len uͤbel von ihren Freunden begegnet wird: iſt
ſie gewiſſermaßen gezwungen, ſich in ſeinen Schutz
zu begeben. Er macht ſich niemals uͤber die hoͤch-
ſten und feuerlichſten Betheurungen der Ehre ein
Bedenken, damit er ſie zu einem Vertrauen zu
ihm bewegen moͤge. Nach einer Reihe von Raͤn-
ken und Erfindungen, die alle durch ihre Tugend
und Wachſamkeit zu ſchanden gemacht ſind,
nimmt er auf eine niedertraͤchtige Art ſeine Zu-
flucht zu den ſchaͤndlichſten Kuͤnſten, und iſt ge-
noͤthigt, damit er ihr die Ehre rauben koͤnne, ſie
erſt ihrer Sinne zu berauben. Nichts deſto we-
niger kann er ſie nicht zu ſeinen unedlen Abſichten
der Vertraulichkeit außer der Ehe bewegen. Sie
haͤlt ihn durch eingefloͤßte Ehrfurcht gegen ſie
von einer neuen Unternehmung eines vorſetzlichen

Ver-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0788" n="782"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
lich&#x017F;ten Per&#x017F;onen ihres Ge&#x017F;chlechts. Aber die<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;ne Bußfertige, wie &#x017F;ie heißt, &#x017F;tirbt durch ihre<lb/>
eigne Hand: und da &#x017F;ie ihrer begangenen La&#x017F;ter<lb/>
wegen &#x017F;chon auf kein <hi rendition="#fr">ru&#x0364;hmliches</hi> Mitleiden An-<lb/>
&#x017F;pruch machen konnte, ver&#x017F;cherzt &#x017F;ie hierdurch auch<lb/>
alles Recht <hi rendition="#fr">wahrhaftig</hi> bußfertig genannt zu<lb/>
werden, und nach der ho&#x0364;ch&#x017F;ten Wahr&#x017F;cheinlichkeit<lb/>
alles Recht, in jener Welt Barmherzigkeit zu<lb/>
erlangen.</p><lb/>
          <p>Hingegen hier i&#x017F;t <hi rendition="#fr">Fra&#x0364;ulein Harlowe,</hi> eine<lb/>
tugendha&#x017F;te, edelmu&#x0364;thige, wei&#x017F;e, gott&#x017F;elige Per&#x017F;on,<lb/>
die unglu&#x0364;cklicher Wei&#x017F;e durch die Gelu&#x0364;bde und<lb/>
Eid&#x017F;chwu&#x0364;re eines &#x017F;cha&#x0364;ndlichen und liederlichen<lb/>
Kerls, den &#x017F;ie fu&#x0364;r einen ehrliebenden Mann an-<lb/>
&#x017F;iehet, ver&#x017F;tricket wird. Weil ihr um <hi rendition="#fr">&#x017F;einet</hi> wil-<lb/>
len u&#x0364;bel von ihren Freunden begegnet wird: i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;ie gewi&#x017F;&#x017F;ermaßen gezwungen, &#x017F;ich in &#x017F;einen Schutz<lb/>
zu begeben. Er macht &#x017F;ich niemals u&#x0364;ber die ho&#x0364;ch-<lb/>
&#x017F;ten und feuerlich&#x017F;ten Betheurungen der Ehre ein<lb/>
Bedenken, damit er &#x017F;ie zu einem Vertrauen zu<lb/>
ihm bewegen mo&#x0364;ge. Nach einer Reihe von Ra&#x0364;n-<lb/>
ken und Erfindungen, die alle durch ihre Tugend<lb/>
und Wach&#x017F;amkeit zu &#x017F;chanden gemacht &#x017F;ind,<lb/>
nimmt er auf eine niedertra&#x0364;chtige Art &#x017F;eine Zu-<lb/>
flucht zu den &#x017F;cha&#x0364;ndlich&#x017F;ten Ku&#x0364;n&#x017F;ten, und i&#x017F;t ge-<lb/>
no&#x0364;thigt, damit er ihr die Ehre rauben ko&#x0364;nne, &#x017F;ie<lb/>
er&#x017F;t ihrer Sinne zu berauben. Nichts de&#x017F;to we-<lb/>
niger kann er &#x017F;ie nicht zu &#x017F;einen unedlen Ab&#x017F;ichten<lb/>
der Vertraulichkeit außer der Ehe bewegen. Sie<lb/>
ha&#x0364;lt ihn durch eingeflo&#x0364;ßte Ehrfurcht gegen &#x017F;ie<lb/>
von einer neuen Unternehmung eines vor&#x017F;etzlichen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Ver-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[782/0788] lichſten Perſonen ihres Geſchlechts. Aber die ſchoͤne Bußfertige, wie ſie heißt, ſtirbt durch ihre eigne Hand: und da ſie ihrer begangenen Laſter wegen ſchon auf kein ruͤhmliches Mitleiden An- ſpruch machen konnte, verſcherzt ſie hierdurch auch alles Recht wahrhaftig bußfertig genannt zu werden, und nach der hoͤchſten Wahrſcheinlichkeit alles Recht, in jener Welt Barmherzigkeit zu erlangen. Hingegen hier iſt Fraͤulein Harlowe, eine tugendhaſte, edelmuͤthige, weiſe, gottſelige Perſon, die ungluͤcklicher Weiſe durch die Geluͤbde und Eidſchwuͤre eines ſchaͤndlichen und liederlichen Kerls, den ſie fuͤr einen ehrliebenden Mann an- ſiehet, verſtricket wird. Weil ihr um ſeinet wil- len uͤbel von ihren Freunden begegnet wird: iſt ſie gewiſſermaßen gezwungen, ſich in ſeinen Schutz zu begeben. Er macht ſich niemals uͤber die hoͤch- ſten und feuerlichſten Betheurungen der Ehre ein Bedenken, damit er ſie zu einem Vertrauen zu ihm bewegen moͤge. Nach einer Reihe von Raͤn- ken und Erfindungen, die alle durch ihre Tugend und Wachſamkeit zu ſchanden gemacht ſind, nimmt er auf eine niedertraͤchtige Art ſeine Zu- flucht zu den ſchaͤndlichſten Kuͤnſten, und iſt ge- noͤthigt, damit er ihr die Ehre rauben koͤnne, ſie erſt ihrer Sinne zu berauben. Nichts deſto we- niger kann er ſie nicht zu ſeinen unedlen Abſichten der Vertraulichkeit außer der Ehe bewegen. Sie haͤlt ihn durch eingefloͤßte Ehrfurcht gegen ſie von einer neuen Unternehmung eines vorſetzlichen Ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/788
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 782. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/788>, abgerufen am 17.09.2024.