ter geschrieben hätte. Vorher hätte sie nicht das Herz gehabt, es zu thun. Jn diesem Schrei- ben bäte sie um einen letzten Segen, und um Vergebung. Es wäre kein Wunder, sprach sie, daß ich sie gerühret sähe. Da ich den letzten Lie- besdienst für sie übernommen hätte; wofür sie mir so wohl als für die Gewährung ihrer an- dern Bitte dankte: so sollte ich dereinst alle diese Briefe vor mir sehen. Und könnte sie eine gü- tige Antwort auf denjenigen bekommen, welchen sie nun geschrieben hätte, der ungütigen Antwort von ihrer Schwester ein Gegengewicht zu geben: so möchte sie vielleicht bewogen werden, mir bey- de mit einander zu zeigen.
Jch wußte, daß es ihr misfällig gewesen seyn würde, wenn ich die Grausamkeit ihrer Ver- wandten hart beurtheilet hätte. Daher sagte ich nur, sie müßte gewiß Feinde haben, die ihre Rechnung dabey zu finden hoffeten, daß sie den Unwillen ihrer Freunde gegen sie unterhielten.
Es kann wohl seyn, Herr Belforo, versetzte sie: dem Unglücklichen fehlt es niemals an Fein- den. Ein Vergehen, das freywillig begangen ist, rechtfertigt die Beschuldigung vieler andern. Wo das Ohr den Anklagen geöffnet wird, da wird es nicht an Klägern fehlen: und jedermann wird dienstfertig mit Histörchen gegen ein in Un- gnaden gefallenes Kind da aufgezogen kommen, wo inemand etwas zu desselben Vortheil sagen darf. Jch hätte zu rechter Zeit weise gewesen
seyn
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ter geſchrieben haͤtte. Vorher haͤtte ſie nicht das Herz gehabt, es zu thun. Jn dieſem Schrei- ben baͤte ſie um einen letzten Segen, und um Vergebung. Es waͤre kein Wunder, ſprach ſie, daß ich ſie geruͤhret ſaͤhe. Da ich den letzten Lie- besdienſt fuͤr ſie uͤbernommen haͤtte; wofuͤr ſie mir ſo wohl als fuͤr die Gewaͤhrung ihrer an- dern Bitte dankte: ſo ſollte ich dereinſt alle dieſe Briefe vor mir ſehen. Und koͤnnte ſie eine guͤ- tige Antwort auf denjenigen bekommen, welchen ſie nun geſchrieben haͤtte, der unguͤtigen Antwort von ihrer Schweſter ein Gegengewicht zu geben: ſo moͤchte ſie vielleicht bewogen werden, mir bey- de mit einander zu zeigen.
Jch wußte, daß es ihr misfaͤllig geweſen ſeyn wuͤrde, wenn ich die Grauſamkeit ihrer Ver- wandten hart beurtheilet haͤtte. Daher ſagte ich nur, ſie muͤßte gewiß Feinde haben, die ihre Rechnung dabey zu finden hoffeten, daß ſie den Unwillen ihrer Freunde gegen ſie unterhielten.
Es kann wohl ſeyn, Herr Belforo, verſetzte ſie: dem Ungluͤcklichen fehlt es niemals an Fein- den. Ein Vergehen, das freywillig begangen iſt, rechtfertigt die Beſchuldigung vieler andern. Wo das Ohr den Anklagen geoͤffnet wird, da wird es nicht an Klaͤgern fehlen: und jedermann wird dienſtfertig mit Hiſtoͤrchen gegen ein in Un- gnaden gefallenes Kind da aufgezogen kommen, wo inemand etwas zu deſſelben Vortheil ſagen darf. Jch haͤtte zu rechter Zeit weiſe geweſen
ſeyn
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ter geſchrieben haͤtte. Vorher haͤtte ſie nicht das
Herz gehabt, es zu thun. Jn dieſem Schrei-
ben baͤte ſie um einen letzten Segen, und um
Vergebung. Es waͤre kein Wunder, ſprach ſie,
daß ich ſie geruͤhret ſaͤhe. Da ich den letzten Lie-
besdienſt fuͤr ſie uͤbernommen haͤtte; wofuͤr ſie
mir ſo wohl als fuͤr die Gewaͤhrung ihrer an-
dern Bitte dankte: ſo ſollte ich dereinſt alle dieſe
Briefe vor mir ſehen. Und koͤnnte ſie eine guͤ-
tige Antwort auf denjenigen bekommen, welchen
ſie nun geſchrieben haͤtte, der unguͤtigen Antwort
von ihrer Schweſter ein Gegengewicht zu geben:
ſo moͤchte ſie vielleicht bewogen werden, mir bey-
de mit einander zu zeigen.
Jch wußte, daß es ihr misfaͤllig geweſen ſeyn
wuͤrde, wenn ich die Grauſamkeit ihrer Ver-
wandten hart beurtheilet haͤtte. Daher ſagte ich
nur, ſie muͤßte gewiß Feinde haben, die ihre
Rechnung dabey zu finden hoffeten, daß ſie den
Unwillen ihrer Freunde gegen ſie unterhielten.
Es kann wohl ſeyn, Herr Belforo, verſetzte
ſie: dem Ungluͤcklichen fehlt es niemals an Fein-
den. Ein Vergehen, das freywillig begangen
iſt, rechtfertigt die Beſchuldigung vieler andern.
Wo das Ohr den Anklagen geoͤffnet wird, da
wird es nicht an Klaͤgern fehlen: und jedermann
wird dienſtfertig mit Hiſtoͤrchen gegen ein in Un-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 691. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/697>, abgerufen am 22.11.2024.
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