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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

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die sie so glücklich gemacht hatte, mit Lächeln her-
um sehen! Was für Lobsprüche brachte ihr das
Beyspiel zuwege, welches sie uns gegeben hatte:
und was für hoffnungsvolle Wirkungen folgten
auf dieselben! Mit was für einer edlen Zuversicht
konnte sie ihren lieben Hrn. Harlowe ansehen, als
eine Person, welche durch sie glücklich gemacht
war; und vergnügt gedenken, daß aus einer so
reinen Quelle nichts als reine Tugend strömete!

Nun kehren Sie diese reizende Vorstellung um,
liebste Freundinn, wie ich täglich thue. Sehen
Sie meine theure Mutter, wie sie sich in ihrem
Closet betrübet; wie sie an ihrem Tische und in
denen Gemächern, worinn der Kummer vormals
ein Fremdling war, ihre Betrübniß zu unterdrü-
cken suchet; wie sie in tiefen Gedanken ihren Kopf
hängen lässet; wie kein Lächeln ihr gütiges Gesicht
mehr erheitert; wie ihre Tugend genöthigt ist für
Fehler zu leiden, derer sie nicht schuldig seyn könn-
te; wie ihre Geduld, weil sie mehr als irgend ein
anderer von dieser edlen Gabe besitzt, beständig
durch wiederholte Vorwürfe solcher Fehler auf die
Probe gesetzet wird, durch welche sie eben so sehr
gekränket ist, als diejenigen seyn können, von de-
nen sie so oft davon höret; wie sie, als die Quelle,
eine Befleckung, welche nur einen von den abge-
strömten Bächen angesteckt hatte, sich selbst bey-
misset; wie sie sich fürchtet, wenn sie etwa dazu
geneigt wäre, ihre Lippen zu meinem Besten zu
öffnen, damit man nicht denken möge, daß sie in
ihrem eignen Gemüthe eine Neigung zu Fehlern

hätte,



die ſie ſo gluͤcklich gemacht hatte, mit Laͤcheln her-
um ſehen! Was fuͤr Lobſpruͤche brachte ihr das
Beyſpiel zuwege, welches ſie uns gegeben hatte:
und was fuͤr hoffnungsvolle Wirkungen folgten
auf dieſelben! Mit was fuͤr einer edlen Zuverſicht
konnte ſie ihren lieben Hrn. Harlowe anſehen, als
eine Perſon, welche durch ſie gluͤcklich gemacht
war; und vergnuͤgt gedenken, daß aus einer ſo
reinen Quelle nichts als reine Tugend ſtroͤmete!

Nun kehren Sie dieſe reizende Vorſtellung um,
liebſte Freundinn, wie ich taͤglich thue. Sehen
Sie meine theure Mutter, wie ſie ſich in ihrem
Cloſet betruͤbet; wie ſie an ihrem Tiſche und in
denen Gemaͤchern, worinn der Kummer vormals
ein Fremdling war, ihre Betruͤbniß zu unterdruͤ-
cken ſuchet; wie ſie in tiefen Gedanken ihren Kopf
haͤngen laͤſſet; wie kein Laͤcheln ihr guͤtiges Geſicht
mehr erheitert; wie ihre Tugend genoͤthigt iſt fuͤr
Fehler zu leiden, derer ſie nicht ſchuldig ſeyn koͤnn-
te; wie ihre Geduld, weil ſie mehr als irgend ein
anderer von dieſer edlen Gabe beſitzt, beſtaͤndig
durch wiederholte Vorwuͤrfe ſolcher Fehler auf die
Probe geſetzet wird, durch welche ſie eben ſo ſehr
gekraͤnket iſt, als diejenigen ſeyn koͤnnen, von de-
nen ſie ſo oft davon hoͤret; wie ſie, als die Quelle,
eine Befleckung, welche nur einen von den abge-
ſtroͤmten Baͤchen angeſteckt hatte, ſich ſelbſt bey-
miſſet; wie ſie ſich fuͤrchtet, wenn ſie etwa dazu
geneigt waͤre, ihre Lippen zu meinem Beſten zu
oͤffnen, damit man nicht denken moͤge, daß ſie in
ihrem eignen Gemuͤthe eine Neigung zu Fehlern

haͤtte,
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[639/0645] die ſie ſo gluͤcklich gemacht hatte, mit Laͤcheln her- um ſehen! Was fuͤr Lobſpruͤche brachte ihr das Beyſpiel zuwege, welches ſie uns gegeben hatte: und was fuͤr hoffnungsvolle Wirkungen folgten auf dieſelben! Mit was fuͤr einer edlen Zuverſicht konnte ſie ihren lieben Hrn. Harlowe anſehen, als eine Perſon, welche durch ſie gluͤcklich gemacht war; und vergnuͤgt gedenken, daß aus einer ſo reinen Quelle nichts als reine Tugend ſtroͤmete! Nun kehren Sie dieſe reizende Vorſtellung um, liebſte Freundinn, wie ich taͤglich thue. Sehen Sie meine theure Mutter, wie ſie ſich in ihrem Cloſet betruͤbet; wie ſie an ihrem Tiſche und in denen Gemaͤchern, worinn der Kummer vormals ein Fremdling war, ihre Betruͤbniß zu unterdruͤ- cken ſuchet; wie ſie in tiefen Gedanken ihren Kopf haͤngen laͤſſet; wie kein Laͤcheln ihr guͤtiges Geſicht mehr erheitert; wie ihre Tugend genoͤthigt iſt fuͤr Fehler zu leiden, derer ſie nicht ſchuldig ſeyn koͤnn- te; wie ihre Geduld, weil ſie mehr als irgend ein anderer von dieſer edlen Gabe beſitzt, beſtaͤndig durch wiederholte Vorwuͤrfe ſolcher Fehler auf die Probe geſetzet wird, durch welche ſie eben ſo ſehr gekraͤnket iſt, als diejenigen ſeyn koͤnnen, von de- nen ſie ſo oft davon hoͤret; wie ſie, als die Quelle, eine Befleckung, welche nur einen von den abge- ſtroͤmten Baͤchen angeſteckt hatte, ſich ſelbſt bey- miſſet; wie ſie ſich fuͤrchtet, wenn ſie etwa dazu geneigt waͤre, ihre Lippen zu meinem Beſten zu oͤffnen, damit man nicht denken moͤge, daß ſie in ihrem eignen Gemuͤthe eine Neigung zu Fehlern haͤtte,

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 639. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/645>, abgerufen am 17.09.2024.