noch bey Gelegenheit zu verstehen. Aber wenn es ihm ja nun ein Ernst ist, woran doch ein jeder zweifeln muß, der ihn kennet: was denken Sie denn, da er uns noch dazu hasset, und frey geste- het, daß er uns alle hasse und verachte, was würde hier das angenehmste seyn? Von ihrem Tode? oder von ihrer Vermählung mit einem so schänd- lichen Kerl Nachricht zu bekommen?
Für uns alle, kann ich jedoch nicht sagen. Denn, o! meine liebe Frau Norton. Sie wissen, was die Zärtlichkeit einer Mutter für ihr herzlich geliebtes Kind, ungeachtet aller Fehler dieses Kin- des, lieber sehen würde, als auf beständig ihrer verlustig zu werden!
Allein ich muß mit dem Strohm schwimmen. Die Klugheit erfordert es: sonst würde ich das Unglück derer, die eines bessern würdig sind, son- derlich meines lieben Herrn Harlowes, nur ver- größern, da es doch schon mehr als genug ist, sie alle auf die übrige Zeit ihres Lebens der Glückse- ligkeit zu berauben. So viel weiß ich gewiß; wenn ich mich den Uebrigen widersetzen wollte: so würde unser Sohn wegeilen, den liederlichen Kerl aufzusuchen. Wer könnte alsdenn sagen, was bey einem so ungestümen und blutdürstigen Menschen, wofür der Lovelace bekannt ist, der Ausgang davon seyn würde?
Alles, was ich vermuthen kann für sie auszu- zurichten, ist, daß binnen einer Woche, oder so ungefähr, Hr. Brand hinaufgeschickt werde, sich in geheim nach ihrem gegenwärtigen Zustande und
ihrer
noch bey Gelegenheit zu verſtehen. Aber wenn es ihm ja nun ein Ernſt iſt, woran doch ein jeder zweifeln muß, der ihn kennet: was denken Sie denn, da er uns noch dazu haſſet, und frey geſte- het, daß er uns alle haſſe und verachte, was wuͤrde hier das angenehmſte ſeyn? Von ihrem Tode? oder von ihrer Vermaͤhlung mit einem ſo ſchaͤnd- lichen Kerl Nachricht zu bekommen?
Fuͤr uns alle, kann ich jedoch nicht ſagen. Denn, o! meine liebe Frau Norton. Sie wiſſen, was die Zaͤrtlichkeit einer Mutter fuͤr ihr herzlich geliebtes Kind, ungeachtet aller Fehler dieſes Kin- des, lieber ſehen wuͤrde, als auf beſtaͤndig ihrer verluſtig zu werden!
Allein ich muß mit dem Strohm ſchwimmen. Die Klugheit erfordert es: ſonſt wuͤrde ich das Ungluͤck derer, die eines beſſern wuͤrdig ſind, ſon- derlich meines lieben Herrn Harlowes, nur ver- groͤßern, da es doch ſchon mehr als genug iſt, ſie alle auf die uͤbrige Zeit ihres Lebens der Gluͤckſe- ligkeit zu berauben. So viel weiß ich gewiß; wenn ich mich den Uebrigen widerſetzen wollte: ſo wuͤrde unſer Sohn wegeilen, den liederlichen Kerl aufzuſuchen. Wer koͤnnte alsdenn ſagen, was bey einem ſo ungeſtuͤmen und blutduͤrſtigen Menſchen, wofuͤr der Lovelace bekannt iſt, der Ausgang davon ſeyn wuͤrde?
Alles, was ich vermuthen kann fuͤr ſie auszu- zurichten, iſt, daß binnen einer Woche, oder ſo ungefaͤhr, Hr. Brand hinaufgeſchickt werde, ſich in geheim nach ihrem gegenwaͤrtigen Zuſtande und
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noch bey Gelegenheit zu verſtehen. Aber wenn
es ihm ja nun ein Ernſt iſt, woran doch ein jeder
zweifeln muß, der ihn kennet: was denken Sie
denn, da er uns noch dazu haſſet, und frey geſte-
het, daß er uns alle haſſe und verachte, was wuͤrde
hier das angenehmſte ſeyn? Von ihrem Tode?
oder von ihrer Vermaͤhlung mit einem ſo ſchaͤnd-
lichen Kerl Nachricht zu bekommen?
Fuͤr uns alle, kann ich jedoch nicht ſagen.
Denn, o! meine liebe Frau Norton. Sie wiſſen,
was die Zaͤrtlichkeit einer Mutter fuͤr ihr herzlich
geliebtes Kind, ungeachtet aller Fehler dieſes Kin-
des, lieber ſehen wuͤrde, als auf beſtaͤndig ihrer
verluſtig zu werden!
Allein ich muß mit dem Strohm ſchwimmen.
Die Klugheit erfordert es: ſonſt wuͤrde ich das
Ungluͤck derer, die eines beſſern wuͤrdig ſind, ſon-
derlich meines lieben Herrn Harlowes, nur ver-
groͤßern, da es doch ſchon mehr als genug iſt, ſie
alle auf die uͤbrige Zeit ihres Lebens der Gluͤckſe-
ligkeit zu berauben. So viel weiß ich gewiß;
wenn ich mich den Uebrigen widerſetzen wollte:
ſo wuͤrde unſer Sohn wegeilen, den liederlichen
Kerl aufzuſuchen. Wer koͤnnte alsdenn ſagen,
was bey einem ſo ungeſtuͤmen und blutduͤrſtigen
Menſchen, wofuͤr der Lovelace bekannt iſt, der
Ausgang davon ſeyn wuͤrde?
Alles, was ich vermuthen kann fuͤr ſie auszu-
zurichten, iſt, daß binnen einer Woche, oder ſo
ungefaͤhr, Hr. Brand hinaufgeſchickt werde, ſich
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 621. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/627>, abgerufen am 22.11.2024.
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