Wohlgefallen, oder ein Misfallen an jemand, wieder abzulegen. Man wird seiner eignen Scharfsichtigkeit zu Ehren Gründe aufsuchen, den ersten Eindruck zu bestärken. Es ist auch nicht ein jedes Gemüth so aufrichtig, daß es sei- nen Jrthum bekennen sollte, wenn es ihn einsie- het. Du bist selbst ein Meister in der vermeyn- ten Wissenschaft, den Leuten anzusehen, wie sie beschaffen sind: und so oft du dich betrügest, wirst du darauf sinnen, einige Gründe zu finden, warum es wahrscheinlicher gewesen, daß du Recht gehabt haben solltest. Du wirst bey der Per- son, die du einmal getadelt hast, auf alle Bewe- gungen, alle Handlungen, auf ein jedes Wort, einen jeden Ausspruch, acht geben, damit du dir helfen mögest, deine erste Meynung wieder zu er- wecken und zu behaupten. Und in der That die menschliche Natur ist ein so schändliches Ding, daß, da du selten an der vortheilhaften Seite irrest, du große Wahrscheinlichkeit für dich hast, es an der andern unter sechsen sünf male zu tref- fen. Vielleicht muthmaßest du auch nur von andern nach dem, was du in deinem eignen Her- zen findest, damit du Ursache habest, dir aus dei- ner Scharfsichtigkeit selbst eine Ehre zu machen.
Hier hast du eine Predigt wieder für deine Predigt. Jch hoffe, wo dir deine eigne gefällt, daß du mir für meine Dank sagen werdest; um so viel mehr, da du dich daraus bessern kannst, wo du willst: Denn die Berechnung dazu ist nach deiner eignen Mittagslinie gemacht.
Die
Wohlgefallen, oder ein Misfallen an jemand, wieder abzulegen. Man wird ſeiner eignen Scharfſichtigkeit zu Ehren Gruͤnde aufſuchen, den erſten Eindruck zu beſtaͤrken. Es iſt auch nicht ein jedes Gemuͤth ſo aufrichtig, daß es ſei- nen Jrthum bekennen ſollte, wenn es ihn einſie- het. Du biſt ſelbſt ein Meiſter in der vermeyn- ten Wiſſenſchaft, den Leuten anzuſehen, wie ſie beſchaffen ſind: und ſo oft du dich betruͤgeſt, wirſt du darauf ſinnen, einige Gruͤnde zu finden, warum es wahrſcheinlicher geweſen, daß du Recht gehabt haben ſollteſt. Du wirſt bey der Per- ſon, die du einmal getadelt haſt, auf alle Bewe- gungen, alle Handlungen, auf ein jedes Wort, einen jeden Ausſpruch, acht geben, damit du dir helfen moͤgeſt, deine erſte Meynung wieder zu er- wecken und zu behaupten. Und in der That die menſchliche Natur iſt ein ſo ſchaͤndliches Ding, daß, da du ſelten an der vortheilhaften Seite irreſt, du große Wahrſcheinlichkeit fuͤr dich haſt, es an der andern unter ſechſen ſuͤnf male zu tref- fen. Vielleicht muthmaßeſt du auch nur von andern nach dem, was du in deinem eignen Her- zen findeſt, damit du Urſache habeſt, dir aus dei- ner Scharfſichtigkeit ſelbſt eine Ehre zu machen.
Hier haſt du eine Predigt wieder fuͤr deine Predigt. Jch hoffe, wo dir deine eigne gefaͤllt, daß du mir fuͤr meine Dank ſagen werdeſt; um ſo viel mehr, da du dich daraus beſſern kannſt, wo du willſt: Denn die Berechnung dazu iſt nach deiner eignen Mittagslinie gemacht.
Die
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Wohlgefallen, oder ein Misfallen an jemand,
wieder abzulegen. Man wird ſeiner eignen
Scharfſichtigkeit zu Ehren Gruͤnde aufſuchen,
den erſten Eindruck zu beſtaͤrken. Es iſt auch
nicht ein jedes Gemuͤth ſo aufrichtig, daß es ſei-
nen Jrthum bekennen ſollte, wenn es ihn einſie-
het. Du biſt ſelbſt ein Meiſter in der vermeyn-
ten Wiſſenſchaft, den Leuten anzuſehen, wie ſie
beſchaffen ſind: und ſo oft du dich betruͤgeſt,
wirſt du darauf ſinnen, einige Gruͤnde zu finden,
warum es wahrſcheinlicher geweſen, daß du Recht
gehabt haben ſollteſt. Du wirſt bey der Per-
ſon, die du einmal getadelt haſt, auf alle Bewe-
gungen, alle Handlungen, auf ein jedes Wort,
einen jeden Ausſpruch, acht geben, damit du dir
helfen moͤgeſt, deine erſte Meynung wieder zu er-
wecken und zu behaupten. Und in der That die
menſchliche Natur iſt ein ſo ſchaͤndliches Ding,
daß, da du ſelten an der vortheilhaften Seite
irreſt, du große Wahrſcheinlichkeit fuͤr dich haſt,
es an der andern unter ſechſen ſuͤnf male zu tref-
fen. Vielleicht muthmaßeſt du auch nur von
andern nach dem, was du in deinem eignen Her-
zen findeſt, damit du Urſache habeſt, dir aus dei-
ner Scharfſichtigkeit ſelbſt eine Ehre zu machen.
Hier haſt du eine Predigt wieder fuͤr deine
Predigt. Jch hoffe, wo dir deine eigne gefaͤllt,
daß du mir fuͤr meine Dank ſagen werdeſt; um
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 582. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/588>, abgerufen am 22.11.2024.
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