Gelassenheit zum Spiegel. Mein Gesicht, sprach sie, ist in der That eine aufrichtige Abbildung meines Herzens. Allein das Gemüth wird alle- zeit den Körper mit sich hinreißen.
Das Schreiben, sagte sie ferner, ist meine einzige Aufmunterung: und ich habe etwas zu schreiben, das nicht leidet, mich dieser Arbeit zu überheben. Was meine Stunden betrifft: so bin ich allemal gewohnt gewesen, frühe aufzuste- hen. Aber itzo ist die Ruhe weniger in meiner Gewalt, als jemals. Der Schlaf hat seit lan- ger Zeit mit mir im Streit gelegen, und will keine Freundschaft machen, ob ich gleich den er- sten Schritt dazu gethan habe. Was seyn will, das muß seyn.
Hierauf ging sie in ihr Closet, und brachte mir ein Päckchen mit dreyen Siegeln. Haben sie die Güte, sprach sie, dieß ihrem Freunde zu- zustellen. Es muß ihm ein sehr angenehmes Geschenk seyn. Denn dieß Päcklein, mein Herr, begreift alle seine Briefe an mich: solche Briefe, die seinem ganzen Geschlechte Schande machen würden, wenn sie in andere Hände fallen, und mit seinen Handlungen verglichen werden sollten.
Meine Briefe an ihn machen keine große Anzahl aus. Er mag sie aufbehalten, oder zer- nichten, wie ihm beliebt.
Jch dachte, ich müßte diese Gelegenheit nicht vorbeylassen, euretwegen Vorstellungen zu thun. Daher brachte ich auf das nachdrücklichste, mit
dem
Gelaſſenheit zum Spiegel. Mein Geſicht, ſprach ſie, iſt in der That eine aufrichtige Abbildung meines Herzens. Allein das Gemuͤth wird alle- zeit den Koͤrper mit ſich hinreißen.
Das Schreiben, ſagte ſie ferner, iſt meine einzige Aufmunterung: und ich habe etwas zu ſchreiben, das nicht leidet, mich dieſer Arbeit zu uͤberheben. Was meine Stunden betrifft: ſo bin ich allemal gewohnt geweſen, fruͤhe aufzuſte- hen. Aber itzo iſt die Ruhe weniger in meiner Gewalt, als jemals. Der Schlaf hat ſeit lan- ger Zeit mit mir im Streit gelegen, und will keine Freundſchaft machen, ob ich gleich den er- ſten Schritt dazu gethan habe. Was ſeyn will, das muß ſeyn.
Hierauf ging ſie in ihr Cloſet, und brachte mir ein Paͤckchen mit dreyen Siegeln. Haben ſie die Guͤte, ſprach ſie, dieß ihrem Freunde zu- zuſtellen. Es muß ihm ein ſehr angenehmes Geſchenk ſeyn. Denn dieß Paͤcklein, mein Herr, begreift alle ſeine Briefe an mich: ſolche Briefe, die ſeinem ganzen Geſchlechte Schande machen wuͤrden, wenn ſie in andere Haͤnde fallen, und mit ſeinen Handlungen verglichen werden ſollten.
Meine Briefe an ihn machen keine große Anzahl aus. Er mag ſie aufbehalten, oder zer- nichten, wie ihm beliebt.
Jch dachte, ich muͤßte dieſe Gelegenheit nicht vorbeylaſſen, euretwegen Vorſtellungen zu thun. Daher brachte ich auf das nachdruͤcklichſte, mit
dem
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Gelaſſenheit zum Spiegel. Mein Geſicht, ſprach
ſie, iſt in der That eine aufrichtige Abbildung
meines Herzens. Allein das Gemuͤth wird alle-
zeit den Koͤrper mit ſich hinreißen.
Das Schreiben, ſagte ſie ferner, iſt meine
einzige Aufmunterung: und ich habe etwas zu
ſchreiben, das nicht leidet, mich dieſer Arbeit zu
uͤberheben. Was meine Stunden betrifft: ſo
bin ich allemal gewohnt geweſen, fruͤhe aufzuſte-
hen. Aber itzo iſt die Ruhe weniger in meiner
Gewalt, als jemals. Der Schlaf hat ſeit lan-
ger Zeit mit mir im Streit gelegen, und will
keine Freundſchaft machen, ob ich gleich den er-
ſten Schritt dazu gethan habe. Was ſeyn will,
das muß ſeyn.
Hierauf ging ſie in ihr Cloſet, und brachte
mir ein Paͤckchen mit dreyen Siegeln. Haben
ſie die Guͤte, ſprach ſie, dieß ihrem Freunde zu-
zuſtellen. Es muß ihm ein ſehr angenehmes
Geſchenk ſeyn. Denn dieß Paͤcklein, mein
Herr, begreift alle ſeine Briefe an mich: ſolche
Briefe, die ſeinem ganzen Geſchlechte Schande
machen wuͤrden, wenn ſie in andere Haͤnde fallen,
und mit ſeinen Handlungen verglichen werden
ſollten.
Meine Briefe an ihn machen keine große
Anzahl aus. Er mag ſie aufbehalten, oder zer-
nichten, wie ihm beliebt.
Jch dachte, ich muͤßte dieſe Gelegenheit nicht
vorbeylaſſen, euretwegen Vorſtellungen zu thun.
Daher brachte ich auf das nachdruͤcklichſte, mit
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 523. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/529>, abgerufen am 25.11.2024.
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