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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

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"den Person nicht das Herz nagen: wenn sie um
"sich herum auf ihre kleine Familie sehen, und
"gedenken sollte, daß sie ihnen einen Vater gege-
"ben hätte, der, ohne ein Wunderwerk, zum Ver-
"derben bestimmt wäre, und dessen Laster durch
"sein schändliches Beyspiel auf sie fortgepflanzet
"werden, und, nur nach allzu vieler Wahrschein-
"lichkeit, einen Fluch über sie bringen möchte?
"- - Ja, wer weiß bey dem allen, ob nicht mei-
"ne sündliche Gefälligkeit gegen einen Mann, der
"sich selbst berechtigt halten würde, Gehorsam
"von mir zu fordern, meine eigne Tugend anste-
"cken, und mich, statt daß ich ihn bessern sollte,
"zu einer Nachfolgerinn von ihm machen möch-
"te? - - Denn wer kann Pech angreifen,
"und sich nicht besudeln?

"Erlauben Sie mir also, noch einmal mich
"zu erklären, daß ich diesen Mann aufrichtig ver-
"achte! Wo ich mein eignes Herz kenne: so
"thue ich es in Wahrheit! - - Jch habe Mit-
"leiden mit ihm! - - So weit er auch für mein
"Mitleiden zu niedrig ist: so habe ich doch Mit-
"leiden mit ihm! - - Allein dieß könnte ich nicht
"thun: wenn ich ihn noch liebte. Denn ge-
"wiß, meine Wertheste, die Niederträchtigkeit
"und Undankbarkeit desjenigen, den wir lieben,
"müssen wir nothwendig höchst übel empfinden.
"Jch liebe ihn daher nicht! Meine Seele verab-
"scheuet es, Gemeinschaft mit ihm zu haben.

"Jst aber nun gleich so viel meinem Un wil-
"len zuzuschreiben: so bin ich doch durch die zor-

"nigen
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„den Perſon nicht das Herz nagen: wenn ſie um
„ſich herum auf ihre kleine Familie ſehen, und
„gedenken ſollte, daß ſie ihnen einen Vater gege-
„ben haͤtte, der, ohne ein Wunderwerk, zum Ver-
„derben beſtimmt waͤre, und deſſen Laſter durch
„ſein ſchaͤndliches Beyſpiel auf ſie fortgepflanzet
„werden, und, nur nach allzu vieler Wahrſchein-
„lichkeit, einen Fluch uͤber ſie bringen moͤchte?
„‒ ‒ Ja, wer weiß bey dem allen, ob nicht mei-
„ne ſuͤndliche Gefaͤlligkeit gegen einen Mann, der
„ſich ſelbſt berechtigt halten wuͤrde, Gehorſam
„von mir zu fordern, meine eigne Tugend anſte-
„cken, und mich, ſtatt daß ich ihn beſſern ſollte,
„zu einer Nachfolgerinn von ihm machen moͤch-
„te? ‒ ‒ Denn wer kann Pech angreifen,
„und ſich nicht beſudeln?

„Erlauben Sie mir alſo, noch einmal mich
„zu erklaͤren, daß ich dieſen Mann aufrichtig ver-
„achte! Wo ich mein eignes Herz kenne: ſo
„thue ich es in Wahrheit! ‒ ‒ Jch habe Mit-
„leiden mit ihm! ‒ ‒ So weit er auch fuͤr mein
„Mitleiden zu niedrig iſt: ſo habe ich doch Mit-
„leiden mit ihm! ‒ ‒ Allein dieß koͤnnte ich nicht
„thun: wenn ich ihn noch liebte. Denn ge-
„wiß, meine Wertheſte, die Niedertraͤchtigkeit
„und Undankbarkeit desjenigen, den wir lieben,
„muͤſſen wir nothwendig hoͤchſt uͤbel empfinden.
„Jch liebe ihn daher nicht! Meine Seele verab-
„ſcheuet es, Gemeinſchaft mit ihm zu haben.

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„len zuzuſchreiben: ſo bin ich doch durch die zor-

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[487/0493] „den Perſon nicht das Herz nagen: wenn ſie um „ſich herum auf ihre kleine Familie ſehen, und „gedenken ſollte, daß ſie ihnen einen Vater gege- „ben haͤtte, der, ohne ein Wunderwerk, zum Ver- „derben beſtimmt waͤre, und deſſen Laſter durch „ſein ſchaͤndliches Beyſpiel auf ſie fortgepflanzet „werden, und, nur nach allzu vieler Wahrſchein- „lichkeit, einen Fluch uͤber ſie bringen moͤchte? „‒ ‒ Ja, wer weiß bey dem allen, ob nicht mei- „ne ſuͤndliche Gefaͤlligkeit gegen einen Mann, der „ſich ſelbſt berechtigt halten wuͤrde, Gehorſam „von mir zu fordern, meine eigne Tugend anſte- „cken, und mich, ſtatt daß ich ihn beſſern ſollte, „zu einer Nachfolgerinn von ihm machen moͤch- „te? ‒ ‒ Denn wer kann Pech angreifen, „und ſich nicht beſudeln? „Erlauben Sie mir alſo, noch einmal mich „zu erklaͤren, daß ich dieſen Mann aufrichtig ver- „achte! Wo ich mein eignes Herz kenne: ſo „thue ich es in Wahrheit! ‒ ‒ Jch habe Mit- „leiden mit ihm! ‒ ‒ So weit er auch fuͤr mein „Mitleiden zu niedrig iſt: ſo habe ich doch Mit- „leiden mit ihm! ‒ ‒ Allein dieß koͤnnte ich nicht „thun: wenn ich ihn noch liebte. Denn ge- „wiß, meine Wertheſte, die Niedertraͤchtigkeit „und Undankbarkeit desjenigen, den wir lieben, „muͤſſen wir nothwendig hoͤchſt uͤbel empfinden. „Jch liebe ihn daher nicht! Meine Seele verab- „ſcheuet es, Gemeinſchaft mit ihm zu haben. „Jſt aber nun gleich ſo viel meinem Un wil- „len zuzuſchreiben: ſo bin ich doch durch die zor- „nigen H h 4

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 487. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/493>, abgerufen am 18.09.2024.