Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



"solcher Mensch ist? Halten Sie Jhre Clarissa
"Harlowe für so verlohren, oder wenigstens für
"so weit erniedriget, daß Sie, um nur in den
"Augen der Welt einer gekränkten Ehre wieder
"einen Anstrich zu geben, der Großmuth, oder
"vielleicht dem Mitleiden eines Menschen, der
"durch so unmenschliche Mittel ihr dieselbe ge-
"raubt hat, auf eine niederträchtige Art verbun-
"den scheinen sollte? Jn Wahrheit, liebste Freun-
"dinn, ich würde meine Reue über den unbeson-
"nenen Schritt, den ich gethan habe, für nichts
"besseres, als für einen scheinbaren Betrug anse-
"hen: wenn ich nicht, auch so gar über den ge-
"ringsten Wunsch, Herrn Lovelace zu einem Man-
"ne zu haben, erhoben wäre.

"Ja, ich stehe dafür, ich müßte mich krie-
"chend
gegen den ehrlosen Beleidiger erniedri-
"gen, und ihm dankbar seyn, daß er mir eine so
"elende Gerechtigkeit widerfahren ließe.

"Sehen Sie mich nicht schon, wenn ich Jh-
"rem gegebenen Rath folge, vor seinen Freunden
"mit niedergeschlagenen Augen erscheinen, und
"vor meinen eignen, wofern etwa diese sich her-
"ablassen wollten, mich zu erkennen, ohne die edle
"Freymüthigkeit,
welche aus einem Gemüthe,
"das sich keines verdienten Vorwurfs bewußt ist,
"entspringet?

"Sehen Sie mich nicht um mein eignes Haus
"herumkriechen, und alle meine ehrliche Mägde
"mir selbst vorziehen? - - als wenn ich mich so
"gar scheuete, meine Lippen, entweder zu einem

"Ver-
H h 3



„ſolcher Menſch iſt? Halten Sie Jhre Clariſſa
„Harlowe fuͤr ſo verlohren, oder wenigſtens fuͤr
„ſo weit erniedriget, daß Sie, um nur in den
„Augen der Welt einer gekraͤnkten Ehre wieder
„einen Anſtrich zu geben, der Großmuth, oder
„vielleicht dem Mitleiden eines Menſchen, der
„durch ſo unmenſchliche Mittel ihr dieſelbe ge-
„raubt hat, auf eine niedertraͤchtige Art verbun-
„den ſcheinen ſollte? Jn Wahrheit, liebſte Freun-
„dinn, ich wuͤrde meine Reue uͤber den unbeſon-
„nenen Schritt, den ich gethan habe, fuͤr nichts
„beſſeres, als fuͤr einen ſcheinbaren Betrug anſe-
„hen: wenn ich nicht, auch ſo gar uͤber den ge-
„ringſten Wunſch, Herrn Lovelace zu einem Man-
„ne zu haben, erhoben waͤre.

„Ja, ich ſtehe dafuͤr, ich muͤßte mich krie-
„chend
gegen den ehrloſen Beleidiger erniedri-
„gen, und ihm dankbar ſeyn, daß er mir eine ſo
„elende Gerechtigkeit widerfahren ließe.

„Sehen Sie mich nicht ſchon, wenn ich Jh-
„rem gegebenen Rath folge, vor ſeinen Freunden
„mit niedergeſchlagenen Augen erſcheinen, und
„vor meinen eignen, wofern etwa dieſe ſich her-
„ablaſſen wollten, mich zu erkennen, ohne die edle
„Freymuͤthigkeit,
welche aus einem Gemuͤthe,
„das ſich keines verdienten Vorwurfs bewußt iſt,
„entſpringet?

„Sehen Sie mich nicht um mein eignes Haus
„herumkriechen, und alle meine ehrliche Maͤgde
„mir ſelbſt vorziehen? ‒ ‒ als wenn ich mich ſo
„gar ſcheuete, meine Lippen, entweder zu einem

„Ver-
H h 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0491" n="485"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x201E;&#x017F;olcher Men&#x017F;ch i&#x017F;t? Halten Sie Jhre Clari&#x017F;&#x017F;a<lb/>
&#x201E;Harlowe fu&#x0364;r &#x017F;o verlohren, oder wenig&#x017F;tens fu&#x0364;r<lb/>
&#x201E;&#x017F;o weit <hi rendition="#fr">erniedriget,</hi> daß Sie, um nur in den<lb/>
&#x201E;Augen der Welt einer gekra&#x0364;nkten Ehre wieder<lb/>
&#x201E;einen An&#x017F;trich zu geben, der Großmuth, oder<lb/>
&#x201E;vielleicht dem <hi rendition="#fr">Mitleiden</hi> eines Men&#x017F;chen, der<lb/>
&#x201E;durch &#x017F;o unmen&#x017F;chliche Mittel ihr die&#x017F;elbe ge-<lb/>
&#x201E;raubt hat, auf eine niedertra&#x0364;chtige Art verbun-<lb/>
&#x201E;den &#x017F;cheinen &#x017F;ollte? Jn Wahrheit, lieb&#x017F;te Freun-<lb/>
&#x201E;dinn, ich wu&#x0364;rde meine Reue u&#x0364;ber den unbe&#x017F;on-<lb/>
&#x201E;nenen Schritt, den ich gethan habe, fu&#x0364;r nichts<lb/>
&#x201E;be&#x017F;&#x017F;eres, als fu&#x0364;r einen &#x017F;cheinbaren Betrug an&#x017F;e-<lb/>
&#x201E;hen: wenn ich nicht, auch &#x017F;o gar u&#x0364;ber den ge-<lb/>
&#x201E;ring&#x017F;ten Wun&#x017F;ch, Herrn Lovelace zu einem Man-<lb/>
&#x201E;ne zu haben, erhoben wa&#x0364;re.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ja, ich &#x017F;tehe dafu&#x0364;r, ich mu&#x0364;ßte mich <hi rendition="#fr">krie-<lb/>
&#x201E;chend</hi> gegen den ehrlo&#x017F;en Beleidiger erniedri-<lb/>
&#x201E;gen, und ihm dankbar &#x017F;eyn, daß er mir eine &#x017F;o<lb/>
&#x201E;elende Gerechtigkeit widerfahren ließe.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Sehen Sie mich nicht &#x017F;chon, wenn ich Jh-<lb/>
&#x201E;rem gegebenen Rath folge, vor &#x017F;einen Freunden<lb/>
&#x201E;mit niederge&#x017F;chlagenen Augen er&#x017F;cheinen, und<lb/>
&#x201E;vor <hi rendition="#fr">meinen eignen,</hi> wofern etwa die&#x017F;e &#x017F;ich her-<lb/>
&#x201E;abla&#x017F;&#x017F;en wollten, mich zu erkennen, ohne die <hi rendition="#fr">edle<lb/>
&#x201E;Freymu&#x0364;thigkeit,</hi> welche aus einem Gemu&#x0364;the,<lb/>
&#x201E;das &#x017F;ich keines verdienten Vorwurfs bewußt i&#x017F;t,<lb/>
&#x201E;ent&#x017F;pringet?</p><lb/>
          <p>&#x201E;Sehen Sie mich nicht um mein eignes Haus<lb/>
&#x201E;herumkriechen, und alle meine ehrliche Ma&#x0364;gde<lb/>
&#x201E;mir &#x017F;elb&#x017F;t vorziehen? &#x2012; &#x2012; als wenn ich mich &#x017F;o<lb/>
&#x201E;gar &#x017F;cheuete, meine Lippen, entweder zu einem<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H h 3</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x201E;Ver-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[485/0491] „ſolcher Menſch iſt? Halten Sie Jhre Clariſſa „Harlowe fuͤr ſo verlohren, oder wenigſtens fuͤr „ſo weit erniedriget, daß Sie, um nur in den „Augen der Welt einer gekraͤnkten Ehre wieder „einen Anſtrich zu geben, der Großmuth, oder „vielleicht dem Mitleiden eines Menſchen, der „durch ſo unmenſchliche Mittel ihr dieſelbe ge- „raubt hat, auf eine niedertraͤchtige Art verbun- „den ſcheinen ſollte? Jn Wahrheit, liebſte Freun- „dinn, ich wuͤrde meine Reue uͤber den unbeſon- „nenen Schritt, den ich gethan habe, fuͤr nichts „beſſeres, als fuͤr einen ſcheinbaren Betrug anſe- „hen: wenn ich nicht, auch ſo gar uͤber den ge- „ringſten Wunſch, Herrn Lovelace zu einem Man- „ne zu haben, erhoben waͤre. „Ja, ich ſtehe dafuͤr, ich muͤßte mich krie- „chend gegen den ehrloſen Beleidiger erniedri- „gen, und ihm dankbar ſeyn, daß er mir eine ſo „elende Gerechtigkeit widerfahren ließe. „Sehen Sie mich nicht ſchon, wenn ich Jh- „rem gegebenen Rath folge, vor ſeinen Freunden „mit niedergeſchlagenen Augen erſcheinen, und „vor meinen eignen, wofern etwa dieſe ſich her- „ablaſſen wollten, mich zu erkennen, ohne die edle „Freymuͤthigkeit, welche aus einem Gemuͤthe, „das ſich keines verdienten Vorwurfs bewußt iſt, „entſpringet? „Sehen Sie mich nicht um mein eignes Haus „herumkriechen, und alle meine ehrliche Maͤgde „mir ſelbſt vorziehen? ‒ ‒ als wenn ich mich ſo „gar ſcheuete, meine Lippen, entweder zu einem „Ver- H h 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/491
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/491>, abgerufen am 22.11.2024.