Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite


Es mag seyn, mein Herr, versetzte sie mit
heftiger Lebhaftigkeit: er wird seine Rechenschaft
sonst irgendwo, nicht mir, zu geben haben. Es
würde mir nicht unangenehm seyn, wenn ich ihn
im Stande befände, seine Gesinnung in diesem
Vorfall zu rechtfertigen. Lassen sie ihn nur dieß
einzige wissen, mein Herr, daß ich eben damals,
da sie mich in bitterem Kummer über sein un-
verschuldetes Verfahren mit mir die heftigsten
Klagen führen gehöret haben; eben in dem Au-
genblick, da ich so gerühret gewesen bin; noch die-
ses habe sagen können; und niemals hatte
ich eine so ernstliche und rührende Erhe-
bung der Hände und Augen gesehen:
Gieb
ihm, gnädiger Gott! Buße und Besserung, da-
mit ich die letzte arme Person seyn möge, die
durch ihn unglücklich gemacht seyn soll! - - Und
zu rechter, zu dir gefälliger Zeit, nimm den elen-
den Menschen, der gegen mich keine Barmher-
zigkeit gehabt hat, zu deiner Gnade und Barm-
herzigkeit auf!

Bey meiner Seele, ich konnte nicht sprechen.
- - Sie hatte ihre Bibel nicht umsonst vor
sich.

Jch ward gezwungen, mein Gesicht wegzu-
kehren, und mein Schnupftuch auszuziehen.

Was ist dieß für ein Engel! - - Selbst
der Kerkermeister und seine Frau und Magd,
weinten.

Noch einmal wünsche ich, daß du da gewe-
sen, daß du zu ihren Füßen niedergesunken wä-

rest,


Es mag ſeyn, mein Herr, verſetzte ſie mit
heftiger Lebhaftigkeit: er wird ſeine Rechenſchaft
ſonſt irgendwo, nicht mir, zu geben haben. Es
wuͤrde mir nicht unangenehm ſeyn, wenn ich ihn
im Stande befaͤnde, ſeine Geſinnung in dieſem
Vorfall zu rechtfertigen. Laſſen ſie ihn nur dieß
einzige wiſſen, mein Herr, daß ich eben damals,
da ſie mich in bitterem Kummer uͤber ſein un-
verſchuldetes Verfahren mit mir die heftigſten
Klagen fuͤhren gehoͤret haben; eben in dem Au-
genblick, da ich ſo geruͤhret geweſen bin; noch die-
ſes habe ſagen koͤnnen; und niemals hatte
ich eine ſo ernſtliche und ruͤhrende Erhe-
bung der Haͤnde und Augen geſehen:
Gieb
ihm, gnaͤdiger Gott! Buße und Beſſerung, da-
mit ich die letzte arme Perſon ſeyn moͤge, die
durch ihn ungluͤcklich gemacht ſeyn ſoll! ‒ ‒ Und
zu rechter, zu dir gefaͤlliger Zeit, nimm den elen-
den Menſchen, der gegen mich keine Barmher-
zigkeit gehabt hat, zu deiner Gnade und Barm-
herzigkeit auf!

Bey meiner Seele, ich konnte nicht ſprechen.
‒ ‒ Sie hatte ihre Bibel nicht umſonſt vor
ſich.

Jch ward gezwungen, mein Geſicht wegzu-
kehren, und mein Schnupftuch auszuziehen.

Was iſt dieß fuͤr ein Engel! ‒ ‒ Selbſt
der Kerkermeiſter und ſeine Frau und Magd,
weinten.

Noch einmal wuͤnſche ich, daß du da gewe-
ſen, daß du zu ihren Fuͤßen niedergeſunken waͤ-

reſt,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0341" n="335"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Es mag &#x017F;eyn, mein Herr, ver&#x017F;etzte &#x017F;ie mit<lb/>
heftiger Lebhaftigkeit: er wird &#x017F;eine Rechen&#x017F;chaft<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t irgendwo, nicht mir, zu geben haben. Es<lb/>
wu&#x0364;rde mir nicht unangenehm &#x017F;eyn, wenn ich ihn<lb/>
im Stande befa&#x0364;nde, &#x017F;eine Ge&#x017F;innung in die&#x017F;em<lb/>
Vorfall zu rechtfertigen. La&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie ihn nur dieß<lb/>
einzige wi&#x017F;&#x017F;en, mein Herr, daß ich eben <hi rendition="#fr">damals,</hi><lb/>
da &#x017F;ie mich in bitterem Kummer u&#x0364;ber &#x017F;ein un-<lb/>
ver&#x017F;chuldetes Verfahren mit mir die heftig&#x017F;ten<lb/>
Klagen fu&#x0364;hren geho&#x0364;ret haben; eben in <hi rendition="#fr">dem</hi> Au-<lb/>
genblick, da ich &#x017F;o geru&#x0364;hret gewe&#x017F;en bin; noch die-<lb/>
&#x017F;es habe &#x017F;agen ko&#x0364;nnen; <hi rendition="#fr">und niemals hatte<lb/>
ich eine &#x017F;o ern&#x017F;tliche und ru&#x0364;hrende Erhe-<lb/>
bung der Ha&#x0364;nde und Augen ge&#x017F;ehen:</hi> Gieb<lb/>
ihm, gna&#x0364;diger Gott! Buße und Be&#x017F;&#x017F;erung, da-<lb/>
mit ich die letzte arme Per&#x017F;on &#x017F;eyn mo&#x0364;ge, die<lb/>
durch ihn unglu&#x0364;cklich gemacht &#x017F;eyn &#x017F;oll! &#x2012; &#x2012; Und<lb/>
zu rechter, zu dir gefa&#x0364;lliger Zeit, nimm den elen-<lb/>
den Men&#x017F;chen, der gegen mich <hi rendition="#fr">keine</hi> Barmher-<lb/>
zigkeit gehabt hat, zu deiner Gnade und Barm-<lb/>
herzigkeit auf!</p><lb/>
          <p>Bey meiner Seele, ich konnte nicht &#x017F;prechen.<lb/>
&#x2012; &#x2012; Sie hatte ihre Bibel nicht um&#x017F;on&#x017F;t vor<lb/>
&#x017F;ich.</p><lb/>
          <p>Jch ward gezwungen, mein Ge&#x017F;icht wegzu-<lb/>
kehren, und mein Schnupftuch auszuziehen.</p><lb/>
          <p>Was i&#x017F;t dieß fu&#x0364;r ein Engel! &#x2012; &#x2012; Selb&#x017F;t<lb/>
der Kerkermei&#x017F;ter und &#x017F;eine Frau und Magd,<lb/>
weinten.</p><lb/>
          <p>Noch einmal wu&#x0364;n&#x017F;che ich, daß du da gewe-<lb/>
&#x017F;en, daß du zu ihren Fu&#x0364;ßen niederge&#x017F;unken wa&#x0364;-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">re&#x017F;t,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[335/0341] Es mag ſeyn, mein Herr, verſetzte ſie mit heftiger Lebhaftigkeit: er wird ſeine Rechenſchaft ſonſt irgendwo, nicht mir, zu geben haben. Es wuͤrde mir nicht unangenehm ſeyn, wenn ich ihn im Stande befaͤnde, ſeine Geſinnung in dieſem Vorfall zu rechtfertigen. Laſſen ſie ihn nur dieß einzige wiſſen, mein Herr, daß ich eben damals, da ſie mich in bitterem Kummer uͤber ſein un- verſchuldetes Verfahren mit mir die heftigſten Klagen fuͤhren gehoͤret haben; eben in dem Au- genblick, da ich ſo geruͤhret geweſen bin; noch die- ſes habe ſagen koͤnnen; und niemals hatte ich eine ſo ernſtliche und ruͤhrende Erhe- bung der Haͤnde und Augen geſehen: Gieb ihm, gnaͤdiger Gott! Buße und Beſſerung, da- mit ich die letzte arme Perſon ſeyn moͤge, die durch ihn ungluͤcklich gemacht ſeyn ſoll! ‒ ‒ Und zu rechter, zu dir gefaͤlliger Zeit, nimm den elen- den Menſchen, der gegen mich keine Barmher- zigkeit gehabt hat, zu deiner Gnade und Barm- herzigkeit auf! Bey meiner Seele, ich konnte nicht ſprechen. ‒ ‒ Sie hatte ihre Bibel nicht umſonſt vor ſich. Jch ward gezwungen, mein Geſicht wegzu- kehren, und mein Schnupftuch auszuziehen. Was iſt dieß fuͤr ein Engel! ‒ ‒ Selbſt der Kerkermeiſter und ſeine Frau und Magd, weinten. Noch einmal wuͤnſche ich, daß du da gewe- ſen, daß du zu ihren Fuͤßen niedergeſunken waͤ- reſt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/341
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/341>, abgerufen am 22.11.2024.