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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

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Sie ist am Freytage frühe, um sechs, ausge-
gangen: bloß in der Absicht, wie die Leute glau-
ben, in die Kirche beym Covent-Garden, die ganz
nahe bey dem Hause ist, zur Bethstunde des
Morgens zu gehen; wie sie schon vorher verschie-
dene male gethan hatte. Sie ist zu Fuße gegan-
gen, und hat es so verlassen, daß sie binnen einer
Stunde wieder zu Hause seyn wollte - - Jn ei-
nem sehr schlechten Zustande mit ihrer Gesund-
heit!

Gott sey mir gnädig! Was soll ich machen!
- - Jch bin die ganze verwichne Nacht über
völlig außer mir gewesen.

O wertheste Fräulein! Sie wissen nicht, wie
lieb ich diese Freundinn habe! - - Sie ist, so zu
sagen, mein irdischer Heyland gewesen! - -
Meine eigne Seele ist mir nicht werther, als
meine Clarissa Harlowe! - - Ja, sie ist meine
Seele! - - Denn nun habe ich keine! - - We-
nigstens nur eine sehr elende! - Denn sie war
die Freude, die Stärke, die Stütze meines Lebens!
Niemals hat eine Weibsperson die andere so ge-
liebet, als wir einander lieben. Es ist unmög-
lich, Jhnen ihre ausnehmende Vorzüge nur halb
zu erzählen. Jch machte mir einen Ruhm und
eine Ehre daraus, daß ich zu einer so brennenden
Liebe einer so unbefleckten und unvergleichlichen
Person geschickt war! - - Aber nun! - - Wer
weiß, ob die theure und beleidigte Seele nicht
durch den Tod das volle Maaß ihres Elendes,

ihres


Sie iſt am Freytage fruͤhe, um ſechs, ausge-
gangen: bloß in der Abſicht, wie die Leute glau-
ben, in die Kirche beym Covent-Garden, die ganz
nahe bey dem Hauſe iſt, zur Bethſtunde des
Morgens zu gehen; wie ſie ſchon vorher verſchie-
dene male gethan hatte. Sie iſt zu Fuße gegan-
gen, und hat es ſo verlaſſen, daß ſie binnen einer
Stunde wieder zu Hauſe ſeyn wollte ‒ ‒ Jn ei-
nem ſehr ſchlechten Zuſtande mit ihrer Geſund-
heit!

Gott ſey mir gnaͤdig! Was ſoll ich machen!
‒ ‒ Jch bin die ganze verwichne Nacht uͤber
voͤllig außer mir geweſen.

O wertheſte Fraͤulein! Sie wiſſen nicht, wie
lieb ich dieſe Freundinn habe! ‒ ‒ Sie iſt, ſo zu
ſagen, mein irdiſcher Heyland geweſen! ‒ ‒
Meine eigne Seele iſt mir nicht werther, als
meine Clariſſa Harlowe! ‒ ‒ Ja, ſie iſt meine
Seele! ‒ ‒ Denn nun habe ich keine! ‒ ‒ We-
nigſtens nur eine ſehr elende! ‒ Denn ſie war
die Freude, die Staͤrke, die Stuͤtze meines Lebens!
Niemals hat eine Weibsperſon die andere ſo ge-
liebet, als wir einander lieben. Es iſt unmoͤg-
lich, Jhnen ihre ausnehmende Vorzuͤge nur halb
zu erzaͤhlen. Jch machte mir einen Ruhm und
eine Ehre daraus, daß ich zu einer ſo brennenden
Liebe einer ſo unbefleckten und unvergleichlichen
Perſon geſchickt war! ‒ ‒ Aber nun! ‒ ‒ Wer
weiß, ob die theure und beleidigte Seele nicht
durch den Tod das volle Maaß ihres Elendes,

ihres
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[254/0260] Sie iſt am Freytage fruͤhe, um ſechs, ausge- gangen: bloß in der Abſicht, wie die Leute glau- ben, in die Kirche beym Covent-Garden, die ganz nahe bey dem Hauſe iſt, zur Bethſtunde des Morgens zu gehen; wie ſie ſchon vorher verſchie- dene male gethan hatte. Sie iſt zu Fuße gegan- gen, und hat es ſo verlaſſen, daß ſie binnen einer Stunde wieder zu Hauſe ſeyn wollte ‒ ‒ Jn ei- nem ſehr ſchlechten Zuſtande mit ihrer Geſund- heit! Gott ſey mir gnaͤdig! Was ſoll ich machen! ‒ ‒ Jch bin die ganze verwichne Nacht uͤber voͤllig außer mir geweſen. O wertheſte Fraͤulein! Sie wiſſen nicht, wie lieb ich dieſe Freundinn habe! ‒ ‒ Sie iſt, ſo zu ſagen, mein irdiſcher Heyland geweſen! ‒ ‒ Meine eigne Seele iſt mir nicht werther, als meine Clariſſa Harlowe! ‒ ‒ Ja, ſie iſt meine Seele! ‒ ‒ Denn nun habe ich keine! ‒ ‒ We- nigſtens nur eine ſehr elende! ‒ Denn ſie war die Freude, die Staͤrke, die Stuͤtze meines Lebens! Niemals hat eine Weibsperſon die andere ſo ge- liebet, als wir einander lieben. Es iſt unmoͤg- lich, Jhnen ihre ausnehmende Vorzuͤge nur halb zu erzaͤhlen. Jch machte mir einen Ruhm und eine Ehre daraus, daß ich zu einer ſo brennenden Liebe einer ſo unbefleckten und unvergleichlichen Perſon geſchickt war! ‒ ‒ Aber nun! ‒ ‒ Wer weiß, ob die theure und beleidigte Seele nicht durch den Tod das volle Maaß ihres Elendes, ihres

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/260>, abgerufen am 25.11.2024.