der nach gemeiner Sage mein Herz umschließen sollte?
Es ist wahr, dieß ist das erste Beyspiel in dergleichen Fall, daß ich mich jemals rühren las- sen. Aber warum? Weil ich niemals vorher einen so gar ernstlichgemeynten Widerstand, kurz einen so unwiderstehlichen Widerstand, gefun- den habe.
Was für einen Sieg hat ihr Geschlecht in meinen Gedanken durch diese Probe und diesen Widerstand erhalten!
Aber wenn sie mir dießmal vergeben kann - - Kann! - Sie muß. Hat sie es nicht schon auf ihre Ehre gethan? - - Allein wie wird das liebe Kind den Theil von ihrem Versprechen hal- ten, der sie verpflichtet, mich morgen so wieder zu sehen, als wenn nichts vorgefallen wäre?
Jch stelle mir vor, sie würde die ganze Welt dafür geben, daß die erste Zusammenkunft vor- über seyn möchte! - - Sie hatte mir nicht gut verweifen! - Und doch soll sie mir itzt nichts zu verweisen haben! - - Was für eine angenehme Verwirrung! Sie mag ihr Wort mit mir auf ih- re Gefahr brechen. Entfliehen kann sie mir nicht. Zu andern darf sie sich von meinem Richterstuhle nicht wenden. - - Was für einen Freund hat sie in der Welt, wenn sich mein Mitleiden nicht zu ihrem Besten zeiget? - - Und hiernächst wird der würdige Capitain Tomlinson und ihr Onkel Harlowe alles für mich gut zu machen im Stan-
de
der nach gemeiner Sage mein Herz umſchließen ſollte?
Es iſt wahr, dieß iſt das erſte Beyſpiel in dergleichen Fall, daß ich mich jemals ruͤhren laſ- ſen. Aber warum? Weil ich niemals vorher einen ſo gar ernſtlichgemeynten Widerſtand, kurz einen ſo unwiderſtehlichen Widerſtand, gefun- den habe.
Was fuͤr einen Sieg hat ihr Geſchlecht in meinen Gedanken durch dieſe Probe und dieſen Widerſtand erhalten!
Aber wenn ſie mir dießmal vergeben kann ‒ ‒ Kann! ‒ Sie muß. Hat ſie es nicht ſchon auf ihre Ehre gethan? ‒ ‒ Allein wie wird das liebe Kind den Theil von ihrem Verſprechen hal- ten, der ſie verpflichtet, mich morgen ſo wieder zu ſehen, als wenn nichts vorgefallen waͤre?
Jch ſtelle mir vor, ſie wuͤrde die ganze Welt dafuͤr geben, daß die erſte Zuſammenkunft vor- uͤber ſeyn moͤchte! ‒ ‒ Sie hatte mir nicht gut verweifen! ‒ Und doch ſoll ſie mir itzt nichts zu verweiſen haben! ‒ ‒ Was fuͤr eine angenehme Verwirrung! Sie mag ihr Wort mit mir auf ih- re Gefahr brechen. Entfliehen kann ſie mir nicht. Zu andern darf ſie ſich von meinem Richterſtuhle nicht wenden. ‒ ‒ Was fuͤr einen Freund hat ſie in der Welt, wenn ſich mein Mitleiden nicht zu ihrem Beſten zeiget? ‒ ‒ Und hiernaͤchſt wird der wuͤrdige Capitain Tomlinſon und ihr Onkel Harlowe alles fuͤr mich gut zu machen im Stan-
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der nach gemeiner Sage mein Herz umſchließen
ſollte?
Es iſt wahr, dieß iſt das erſte Beyſpiel in
dergleichen Fall, daß ich mich jemals ruͤhren laſ-
ſen. Aber warum? Weil ich niemals vorher
einen ſo gar ernſtlichgemeynten Widerſtand, kurz
einen ſo unwiderſtehlichen Widerſtand, gefun-
den habe.
Was fuͤr einen Sieg hat ihr Geſchlecht in
meinen Gedanken durch dieſe Probe und dieſen
Widerſtand erhalten!
Aber wenn ſie mir dießmal vergeben kann
‒ ‒ Kann! ‒ Sie muß. Hat ſie es nicht ſchon
auf ihre Ehre gethan? ‒ ‒ Allein wie wird das
liebe Kind den Theil von ihrem Verſprechen hal-
ten, der ſie verpflichtet, mich morgen ſo wieder zu
ſehen, als wenn nichts vorgefallen waͤre?
Jch ſtelle mir vor, ſie wuͤrde die ganze Welt
dafuͤr geben, daß die erſte Zuſammenkunft vor-
uͤber ſeyn moͤchte! ‒ ‒ Sie hatte mir nicht gut
verweifen! ‒ Und doch ſoll ſie mir itzt nichts zu
verweiſen haben! ‒ ‒ Was fuͤr eine angenehme
Verwirrung! Sie mag ihr Wort mit mir auf ih-
re Gefahr brechen. Entfliehen kann ſie mir nicht.
Zu andern darf ſie ſich von meinem Richterſtuhle
nicht wenden. ‒ ‒ Was fuͤr einen Freund hat ſie
in der Welt, wenn ſich mein Mitleiden nicht zu
ihrem Beſten zeiget? ‒ ‒ Und hiernaͤchſt wird
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/92>, abgerufen am 04.12.2024.
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