mich zu meinem größten Verdrusse in meiner Hoffnung betrogen sehen: wo du es nicht thust.
Aber, Lovelace, wohin kann die arme Fräu- lein wohl gegangen seyn? Und wer kann das Un- glück beschreiben, worinn sie stecken muß?
Nach euren vorigen Briefen ist zu vermu- then, daß sie sehr wenig Geld übrig haben kann: und bey der übereilten Flucht kann sie auch nicht mehrere Kleider haben, als die sie an hat. Du weißt wohl, wer einmal sagte (*): "Jhre El- "tern, ihre Onkels wollen sie nicht aufnehmen; "ihre Frau Norton muß sich nach jenen richten, "und darf ihr keine Zuflucht in ihrem Hause "verstatten; die Fräulein Howe wird es sich auch "nicht unterstehen; in London hat sie keinen "Freund oder Vertrauten und ist ganz unbekannt "in der Stadt. Nun erlaube mir hinzuzusetzen: "Jhrer Ehre ist sie durch denjenigen beraubt, dem "sie alles aufgeopfert hat, und der ihr durch tau- "send Eidschwüre und Gelübde verbunden war, "ihr Mann, ihr Beschützer, und Freund zu seyn.
Wie heftig muß sie die unmenschliche Be- gegnung, die ihr wiederfahren ist, empfinden! Wie anständig ist es für sie, wie würdig ihrer erhabe- nen Gemüthsart, daß dadurch die Liebe, die sie niemals geheget hat, gegen eben denselben Men- schen in Haß verkehret ist! Daß sie lieber ihre Entehrung der ganzen Welt kund werden lassen,
als
(*) Siehe den IV. Theil S. 24.
mich zu meinem groͤßten Verdruſſe in meiner Hoffnung betrogen ſehen: wo du es nicht thuſt.
Aber, Lovelace, wohin kann die arme Fraͤu- lein wohl gegangen ſeyn? Und wer kann das Un- gluͤck beſchreiben, worinn ſie ſtecken muß?
Nach euren vorigen Briefen iſt zu vermu- then, daß ſie ſehr wenig Geld uͤbrig haben kann: und bey der uͤbereilten Flucht kann ſie auch nicht mehrere Kleider haben, als die ſie an hat. Du weißt wohl, wer einmal ſagte (*): „Jhre El- „tern, ihre Onkels wollen ſie nicht aufnehmen; „ihre Frau Norton muß ſich nach jenen richten, „und darf ihr keine Zuflucht in ihrem Hauſe „verſtatten; die Fraͤulein Howe wird es ſich auch „nicht unterſtehen; in London hat ſie keinen „Freund oder Vertrauten und iſt ganz unbekannt „in der Stadt. Nun erlaube mir hinzuzuſetzen: „Jhrer Ehre iſt ſie durch denjenigen beraubt, dem „ſie alles aufgeopfert hat, und der ihr durch tau- „ſend Eidſchwuͤre und Geluͤbde verbunden war, „ihr Mann, ihr Beſchuͤtzer, und Freund zu ſeyn.
Wie heftig muß ſie die unmenſchliche Be- gegnung, die ihr wiederfahren iſt, empfinden! Wie anſtaͤndig iſt es fuͤr ſie, wie wuͤrdig ihrer erhabe- nen Gemuͤthsart, daß dadurch die Liebe, die ſie niemals geheget hat, gegen eben denſelben Men- ſchen in Haß verkehret iſt! Daß ſie lieber ihre Entehrung der ganzen Welt kund werden laſſen,
als
(*) Siehe den IV. Theil S. 24.
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mich zu meinem groͤßten Verdruſſe in meiner
Hoffnung betrogen ſehen: wo du es nicht thuſt.
Aber, Lovelace, wohin kann die arme Fraͤu-
lein wohl gegangen ſeyn? Und wer kann das Un-
gluͤck beſchreiben, worinn ſie ſtecken muß?
Nach euren vorigen Briefen iſt zu vermu-
then, daß ſie ſehr wenig Geld uͤbrig haben kann:
und bey der uͤbereilten Flucht kann ſie auch nicht
mehrere Kleider haben, als die ſie an hat. Du
weißt wohl, wer einmal ſagte (*): „Jhre El-
„tern, ihre Onkels wollen ſie nicht aufnehmen;
„ihre Frau Norton muß ſich nach jenen richten,
„und darf ihr keine Zuflucht in ihrem Hauſe
„verſtatten; die Fraͤulein Howe wird es ſich auch
„nicht unterſtehen; in London hat ſie keinen
„Freund oder Vertrauten und iſt ganz unbekannt
„in der Stadt. Nun erlaube mir hinzuzuſetzen:
„Jhrer Ehre iſt ſie durch denjenigen beraubt, dem
„ſie alles aufgeopfert hat, und der ihr durch tau-
„ſend Eidſchwuͤre und Geluͤbde verbunden war,
„ihr Mann, ihr Beſchuͤtzer, und Freund zu ſeyn.
Wie heftig muß ſie die unmenſchliche Be-
gegnung, die ihr wiederfahren iſt, empfinden! Wie
anſtaͤndig iſt es fuͤr ſie, wie wuͤrdig ihrer erhabe-
nen Gemuͤthsart, daß dadurch die Liebe, die ſie
niemals geheget hat, gegen eben denſelben Men-
ſchen in Haß verkehret iſt! Daß ſie lieber ihre
Entehrung der ganzen Welt kund werden laſſen,
als
(*) Siehe den IV. Theil S. 24.
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 875. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/881>, abgerufen am 22.11.2024.
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