trachtung ihrer zarten Leibesbeschaffenheit, er- staunlich, und zeigte genugsam, wie sehr es ihr mit ihrem Zorne ein Ernst war: denn ich hatte die äußerste Mühe, sie zu halten; und doch konnte ich nicht hindern, daß sie mir aus meinen Armen glitschte und auf ihre Knie fiel. Sie fiel mir zu den Füssen, und hub so in der Angst ihrer See- len ihre strömenden Augen zu mir auf, mit de- müthigstbittender Sanftmuth, gefaltenen Hän- den und hangenden Haaren: denn weil ihr Nacht- kopfzeug in dem ringenden Widerstreben abgefal- len war, so fielen ihre schönen Haare in natür- lich glänzenden Locken nieder, gerade als wenn sie dienstfertig seyn wollten, die blendenden Schön- heiten ihres Halses und ihrer Schultern zu ver- decken. Auch ihre reizende Brust gieng von Seufzern und von gebrochnem Gluchsen auf und nieder: nicht anders als wenn sie ihren lebenden Lippen in der Fürsprache für sie beystehen wollte. So rief sie mein Mitleiden und meine Ehre an, nach dem der Kummer ihr zu reden vergönnete; und that es mit Worten, welche sie mit dem be- sondern Nachdrucke aussprach, der diese wunderns- würdige Schöne in ihrer Ausrede von allen Frauenzimmern unterscheidet, die ich jemals re- den gehört habe.
"Sehen sie mich an, mein lieber Lovelace" das waren ihre reizende Worte, "ich bitte sie auf "meinen Knien, sehen sie mich an als ein armes "Frauenzimmer, das keinen Schutz hat, außer "Jhnen, das keinen Beystand hat außer ihrer
"Ehre.
trachtung ihrer zarten Leibesbeſchaffenheit, er- ſtaunlich, und zeigte genugſam, wie ſehr es ihr mit ihrem Zorne ein Ernſt war: denn ich hatte die aͤußerſte Muͤhe, ſie zu halten; und doch konnte ich nicht hindern, daß ſie mir aus meinen Armen glitſchte und auf ihre Knie fiel. Sie fiel mir zu den Fuͤſſen, und hub ſo in der Angſt ihrer See- len ihre ſtroͤmenden Augen zu mir auf, mit de- muͤthigſtbittender Sanftmuth, gefaltenen Haͤn- den und hangenden Haaren: denn weil ihr Nacht- kopfzeug in dem ringenden Widerſtreben abgefal- len war, ſo fielen ihre ſchoͤnen Haare in natuͤr- lich glaͤnzenden Locken nieder, gerade als wenn ſie dienſtfertig ſeyn wollten, die blendenden Schoͤn- heiten ihres Halſes und ihrer Schultern zu ver- decken. Auch ihre reizende Bruſt gieng von Seufzern und von gebrochnem Gluchſen auf und nieder: nicht anders als wenn ſie ihren lebenden Lippen in der Fuͤrſprache fuͤr ſie beyſtehen wollte. So rief ſie mein Mitleiden und meine Ehre an, nach dem der Kummer ihr zu reden vergoͤnnete; und that es mit Worten, welche ſie mit dem be- ſondern Nachdrucke ausſprach, der dieſe wunderns- wuͤrdige Schoͤne in ihrer Ausrede von allen Frauenzimmern unterſcheidet, die ich jemals re- den gehoͤrt habe.
„Sehen ſie mich an, mein lieber Lovelace„ das waren ihre reizende Worte, „ich bitte ſie auf „meinen Knien, ſehen ſie mich an als ein armes „Frauenzimmer, das keinen Schutz hat, außer „Jhnen, das keinen Beyſtand hat außer ihrer
„Ehre.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0083"n="77"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
trachtung ihrer zarten Leibesbeſchaffenheit, er-<lb/>ſtaunlich, und zeigte genugſam, wie ſehr es ihr mit<lb/>
ihrem Zorne ein Ernſt war: denn ich hatte die<lb/>
aͤußerſte Muͤhe, ſie zu halten; und doch konnte<lb/>
ich nicht hindern, daß ſie mir aus meinen Armen<lb/>
glitſchte und auf ihre Knie fiel. Sie fiel mir zu<lb/>
den Fuͤſſen, und hub ſo in der Angſt ihrer See-<lb/>
len ihre ſtroͤmenden Augen zu mir auf, mit de-<lb/>
muͤthigſtbittender Sanftmuth, gefaltenen Haͤn-<lb/>
den und hangenden Haaren: denn weil ihr Nacht-<lb/>
kopfzeug in dem ringenden Widerſtreben abgefal-<lb/>
len war, ſo fielen ihre ſchoͤnen Haare in natuͤr-<lb/>
lich glaͤnzenden Locken nieder, gerade als wenn ſie<lb/>
dienſtfertig ſeyn wollten, die blendenden Schoͤn-<lb/>
heiten ihres Halſes und ihrer Schultern zu ver-<lb/>
decken. Auch ihre reizende Bruſt gieng von<lb/>
Seufzern und von gebrochnem Gluchſen auf und<lb/>
nieder: nicht anders als wenn ſie ihren lebenden<lb/>
Lippen in der Fuͤrſprache fuͤr ſie beyſtehen wollte.<lb/>
So rief ſie mein Mitleiden und meine Ehre an,<lb/>
nach dem der Kummer ihr zu reden vergoͤnnete;<lb/>
und that es mit Worten, welche ſie mit dem be-<lb/>ſondern Nachdrucke ausſprach, der dieſe wunderns-<lb/>
wuͤrdige Schoͤne in ihrer Ausrede von allen<lb/>
Frauenzimmern unterſcheidet, die ich jemals re-<lb/>
den gehoͤrt habe.</p><lb/><p>„Sehen ſie mich an, mein lieber Lovelace„<lb/>
das waren ihre reizende Worte, „ich bitte ſie auf<lb/>„meinen Knien, ſehen ſie mich an als ein armes<lb/>„Frauenzimmer, das keinen Schutz hat, außer<lb/>„Jhnen, das keinen Beyſtand hat außer ihrer<lb/><fwplace="bottom"type="catch">„Ehre.</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[77/0083]
trachtung ihrer zarten Leibesbeſchaffenheit, er-
ſtaunlich, und zeigte genugſam, wie ſehr es ihr mit
ihrem Zorne ein Ernſt war: denn ich hatte die
aͤußerſte Muͤhe, ſie zu halten; und doch konnte
ich nicht hindern, daß ſie mir aus meinen Armen
glitſchte und auf ihre Knie fiel. Sie fiel mir zu
den Fuͤſſen, und hub ſo in der Angſt ihrer See-
len ihre ſtroͤmenden Augen zu mir auf, mit de-
muͤthigſtbittender Sanftmuth, gefaltenen Haͤn-
den und hangenden Haaren: denn weil ihr Nacht-
kopfzeug in dem ringenden Widerſtreben abgefal-
len war, ſo fielen ihre ſchoͤnen Haare in natuͤr-
lich glaͤnzenden Locken nieder, gerade als wenn ſie
dienſtfertig ſeyn wollten, die blendenden Schoͤn-
heiten ihres Halſes und ihrer Schultern zu ver-
decken. Auch ihre reizende Bruſt gieng von
Seufzern und von gebrochnem Gluchſen auf und
nieder: nicht anders als wenn ſie ihren lebenden
Lippen in der Fuͤrſprache fuͤr ſie beyſtehen wollte.
So rief ſie mein Mitleiden und meine Ehre an,
nach dem der Kummer ihr zu reden vergoͤnnete;
und that es mit Worten, welche ſie mit dem be-
ſondern Nachdrucke ausſprach, der dieſe wunderns-
wuͤrdige Schoͤne in ihrer Ausrede von allen
Frauenzimmern unterſcheidet, die ich jemals re-
den gehoͤrt habe.
„Sehen ſie mich an, mein lieber Lovelace„
das waren ihre reizende Worte, „ich bitte ſie auf
„meinen Knien, ſehen ſie mich an als ein armes
„Frauenzimmer, das keinen Schutz hat, außer
„Jhnen, das keinen Beyſtand hat außer ihrer
„Ehre.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/83>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.