Die Mutter machte ein Geräusch mit ihrer verdammten Nase. Sarah und Marichen zo- gen ihre Schnupftücher heraus und wandten sich von uns. Nachher erzählten sie mir, daß sie in ihrem Leben niemals einen solchen Aufzug gese- hen hätten - -
Die Unschuld so sieghaft: die Bosheit so er- niedriget, mußten sie meynen!
Aus Unachtsamkeit auf mich selbst hatte ich mich unterdessen weiter zu meinmm Engel bewe- get - - Und sagst du dich noch immer von dei- ner Bosheit los, kommst du noch immer näher - - Rückest du, rückest du noch immer hinterli- stigerweise näher zu mir - - - Jhre Hand war schon ausgerecket - - Jch habe Herz - - Jch habe Herz - - Jedoch auch nicht überilt - - Mein Herz verabscheuet nach guten Grundsätzen die That, wozu du mich nöthigest! - - Gott, nach deiner Barmherzigkeit! - - Das sagte sie mit aufgehobenen Augen und Händen - - Gott nach deiner Barmherzigkeit! - -
Jch flog in die andere Ecke des Zimmers. Den Augenblick waren ihre Gedanken mit ei- nem Seufzer, einem stillen Seufzer beschäfftiget. Marichen sagt, daß nur das Weiße von ihren liebenswürdigen Augen zu sehen gewesen. Aber eben, da sie ihre Hand ausreckte, ohne allen Streit, sich den tödtlichen Stoß zu versetzen; o! wie beunruhiget mich noch die bloße Erzäh- lung: warf sie ihre Augen auf mich, und sahe mich in der äußersten Entfernung, die das Zim-
mer
Die Mutter machte ein Geraͤuſch mit ihrer verdammten Naſe. Sarah und Marichen zo- gen ihre Schnupftuͤcher heraus und wandten ſich von uns. Nachher erzaͤhlten ſie mir, daß ſie in ihrem Leben niemals einen ſolchen Aufzug geſe- hen haͤtten ‒ ‒
Die Unſchuld ſo ſieghaft: die Bosheit ſo er- niedriget, mußten ſie meynen!
Aus Unachtſamkeit auf mich ſelbſt hatte ich mich unterdeſſen weiter zu meinmm Engel bewe- get ‒ ‒ Und ſagſt du dich noch immer von dei- ner Bosheit los, kommſt du noch immer naͤher ‒ ‒ Ruͤckeſt du, ruͤckeſt du noch immer hinterli- ſtigerweiſe naͤher zu mir ‒ ‒ ‒ Jhre Hand war ſchon ausgerecket ‒ ‒ Jch habe Herz ‒ ‒ Jch habe Herz ‒ ‒ Jedoch auch nicht uͤberilt ‒ ‒ Mein Herz verabſcheuet nach guten Grundſaͤtzen die That, wozu du mich noͤthigeſt! ‒ ‒ Gott, nach deiner Barmherzigkeit! ‒ ‒ Das ſagte ſie mit aufgehobenen Augen und Haͤnden ‒ ‒ Gott nach deiner Barmherzigkeit! ‒ ‒
Jch flog in die andere Ecke des Zimmers. Den Augenblick waren ihre Gedanken mit ei- nem Seufzer, einem ſtillen Seufzer beſchaͤfftiget. Marichen ſagt, daß nur das Weiße von ihren liebenswuͤrdigen Augen zu ſehen geweſen. Aber eben, da ſie ihre Hand ausreckte, ohne allen Streit, ſich den toͤdtlichen Stoß zu verſetzen; o! wie beunruhiget mich noch die bloße Erzaͤh- lung: warf ſie ihre Augen auf mich, und ſahe mich in der aͤußerſten Entfernung, die das Zim-
mer
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0822"n="816"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Die Mutter machte ein Geraͤuſch mit ihrer<lb/>
verdammten Naſe. Sarah und Marichen zo-<lb/>
gen ihre Schnupftuͤcher heraus und wandten ſich<lb/>
von uns. Nachher erzaͤhlten ſie mir, daß ſie in<lb/>
ihrem Leben niemals einen ſolchen Aufzug geſe-<lb/>
hen haͤtten ‒‒</p><lb/><p>Die Unſchuld ſo ſieghaft: die Bosheit ſo er-<lb/>
niedriget, mußten ſie meynen!</p><lb/><p>Aus Unachtſamkeit auf mich ſelbſt hatte ich<lb/>
mich unterdeſſen weiter zu meinmm Engel bewe-<lb/>
get ‒‒ Und ſagſt du dich <hirendition="#fr">noch immer</hi> von dei-<lb/>
ner Bosheit los, kommſt du <hirendition="#fr">noch immer</hi> naͤher<lb/>‒‒ Ruͤckeſt du, ruͤckeſt du noch immer hinterli-<lb/>ſtigerweiſe naͤher zu mir ‒‒‒ Jhre Hand war<lb/>ſchon ausgerecket ‒‒ Jch habe Herz ‒‒ Jch habe<lb/>
Herz ‒‒ Jedoch auch nicht uͤberilt ‒‒ Mein<lb/>
Herz verabſcheuet nach <hirendition="#fr">guten Grundſaͤtzen</hi> die<lb/>
That, wozu <hirendition="#fr">du</hi> mich <hirendition="#fr">noͤthigeſt!</hi>‒‒ Gott,<lb/>
nach deiner Barmherzigkeit! ‒‒ Das ſagte ſie<lb/>
mit aufgehobenen Augen und Haͤnden ‒‒ Gott<lb/>
nach deiner Barmherzigkeit! ‒‒</p><lb/><p>Jch flog in die andere Ecke des Zimmers.<lb/>
Den Augenblick waren ihre Gedanken mit ei-<lb/>
nem Seufzer, einem ſtillen Seufzer beſchaͤfftiget.<lb/>
Marichen ſagt, daß nur das Weiße von ihren<lb/>
liebenswuͤrdigen Augen zu ſehen geweſen. Aber<lb/>
eben, da ſie ihre Hand ausreckte, <hirendition="#fr">ohne allen<lb/>
Streit,</hi>ſich den toͤdtlichen Stoß zu verſetzen;<lb/>
o! wie beunruhiget mich noch die bloße Erzaͤh-<lb/>
lung: warf ſie ihre Augen auf mich, und ſahe<lb/>
mich in der aͤußerſten Entfernung, die das Zim-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">mer</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[816/0822]
Die Mutter machte ein Geraͤuſch mit ihrer
verdammten Naſe. Sarah und Marichen zo-
gen ihre Schnupftuͤcher heraus und wandten ſich
von uns. Nachher erzaͤhlten ſie mir, daß ſie in
ihrem Leben niemals einen ſolchen Aufzug geſe-
hen haͤtten ‒ ‒
Die Unſchuld ſo ſieghaft: die Bosheit ſo er-
niedriget, mußten ſie meynen!
Aus Unachtſamkeit auf mich ſelbſt hatte ich
mich unterdeſſen weiter zu meinmm Engel bewe-
get ‒ ‒ Und ſagſt du dich noch immer von dei-
ner Bosheit los, kommſt du noch immer naͤher
‒ ‒ Ruͤckeſt du, ruͤckeſt du noch immer hinterli-
ſtigerweiſe naͤher zu mir ‒ ‒ ‒ Jhre Hand war
ſchon ausgerecket ‒ ‒ Jch habe Herz ‒ ‒ Jch habe
Herz ‒ ‒ Jedoch auch nicht uͤberilt ‒ ‒ Mein
Herz verabſcheuet nach guten Grundſaͤtzen die
That, wozu du mich noͤthigeſt! ‒ ‒ Gott,
nach deiner Barmherzigkeit! ‒ ‒ Das ſagte ſie
mit aufgehobenen Augen und Haͤnden ‒ ‒ Gott
nach deiner Barmherzigkeit! ‒ ‒
Jch flog in die andere Ecke des Zimmers.
Den Augenblick waren ihre Gedanken mit ei-
nem Seufzer, einem ſtillen Seufzer beſchaͤfftiget.
Marichen ſagt, daß nur das Weiße von ihren
liebenswuͤrdigen Augen zu ſehen geweſen. Aber
eben, da ſie ihre Hand ausreckte, ohne allen
Streit, ſich den toͤdtlichen Stoß zu verſetzen;
o! wie beunruhiget mich noch die bloße Erzaͤh-
lung: warf ſie ihre Augen auf mich, und ſahe
mich in der aͤußerſten Entfernung, die das Zim-
mer
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 816. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/822>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.