Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



liche Lage ist; ob es gleich einstens bis an meine
Kehle hinauf schlug. Ein beschämter und feiger
Missethäter! - - Sie schwieg auch stille und
sahe um sich herum: zuerst auf mich; hernach
auf die Mutter, als wenn sie sich nicht weiter vor
ihr fürchtete; dann auf Sarah und Marichen;
endlich auf die angeklagte Dorcas. - - So äus-
serte sich in dem Augenblick voll schrecklicher
Ehrfurcht, die herrliche Macht der Unschuld!

Sie wollte gern reden: aber sie konnte nicht;
nur ihre Blicke setzten meine Schuld in Verwir-
rung. Man hätte eine Maus hören können:
wenn sie über den Fußboden gelaufen wäre. Die
leichten Füße und die rauschende Seide von den
Kleidern der Fräulein würden es nicht gehindert
haben: denn sie schien auf Luft zu treten, und
nichts als Seele zu seyn - - Sie ging zwey oder
dreymal zur Thüre, und wieder zu mir zurück:
ehe die Sprache über den Unwillen die Oberhand
behalten konnte. Endlich reusperte sie sich zwey
oder dreymal, ihre vernehmliche Stimme wieder
zu bekommen - - O du verächtlicher und ver-
ruchter Lovelace, denkest du, daß ich durch diese
armselige und schändliche Ränke von dir, und
diesen deinen gottlosen Mitgenossen, nicht hindurch
schaue?

Du Weib; sie sahe hiebey die Mutter an;
das mir einmal Schrecken eingejaget, allezeit
misfällig und zuwider gewesen ist, nun aber von
mir verabscheuet wird! Du hättest noch einmal;
denn von deiner Hand war vielleicht die Zuberei-

tung;



liche Lage iſt; ob es gleich einſtens bis an meine
Kehle hinauf ſchlug. Ein beſchaͤmter und feiger
Miſſethaͤter! ‒ ‒ Sie ſchwieg auch ſtille und
ſahe um ſich herum: zuerſt auf mich; hernach
auf die Mutter, als wenn ſie ſich nicht weiter vor
ihr fuͤrchtete; dann auf Sarah und Marichen;
endlich auf die angeklagte Dorcas. ‒ ‒ So aͤuſ-
ſerte ſich in dem Augenblick voll ſchrecklicher
Ehrfurcht, die herrliche Macht der Unſchuld!

Sie wollte gern reden: aber ſie konnte nicht;
nur ihre Blicke ſetzten meine Schuld in Verwir-
rung. Man haͤtte eine Maus hoͤren koͤnnen:
wenn ſie uͤber den Fußboden gelaufen waͤre. Die
leichten Fuͤße und die rauſchende Seide von den
Kleidern der Fraͤulein wuͤrden es nicht gehindert
haben: denn ſie ſchien auf Luft zu treten, und
nichts als Seele zu ſeyn ‒ ‒ Sie ging zwey oder
dreymal zur Thuͤre, und wieder zu mir zuruͤck:
ehe die Sprache uͤber den Unwillen die Oberhand
behalten konnte. Endlich reuſperte ſie ſich zwey
oder dreymal, ihre vernehmliche Stimme wieder
zu bekommen ‒ ‒ O du veraͤchtlicher und ver-
ruchter Lovelace, denkeſt du, daß ich durch dieſe
armſelige und ſchaͤndliche Raͤnke von dir, und
dieſen deinen gottloſen Mitgenoſſen, nicht hindurch
ſchaue?

Du Weib; ſie ſahe hiebey die Mutter an;
das mir einmal Schrecken eingejaget, allezeit
misfaͤllig und zuwider geweſen iſt, nun aber von
mir verabſcheuet wird! Du haͤtteſt noch einmal;
denn von deiner Hand war vielleicht die Zuberei-

tung;
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0816" n="810"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
liche Lage i&#x017F;t; ob es gleich ein&#x017F;tens bis an meine<lb/>
Kehle hinauf &#x017F;chlug. Ein be&#x017F;cha&#x0364;mter und feiger<lb/>
Mi&#x017F;&#x017F;etha&#x0364;ter! &#x2012; &#x2012; Sie &#x017F;chwieg auch &#x017F;tille und<lb/>
&#x017F;ahe um &#x017F;ich herum: zuer&#x017F;t auf mich; hernach<lb/>
auf die Mutter, als wenn &#x017F;ie &#x017F;ich nicht weiter vor<lb/>
ihr fu&#x0364;rchtete; dann auf Sarah und Marichen;<lb/>
endlich auf die angeklagte Dorcas. &#x2012; &#x2012; So a&#x0364;u&#x017F;-<lb/>
&#x017F;erte &#x017F;ich in dem Augenblick voll &#x017F;chrecklicher<lb/>
Ehrfurcht, die herrliche Macht der Un&#x017F;chuld!</p><lb/>
          <p>Sie wollte gern reden: aber &#x017F;ie konnte nicht;<lb/>
nur ihre Blicke &#x017F;etzten meine Schuld in Verwir-<lb/>
rung. Man ha&#x0364;tte eine Maus ho&#x0364;ren ko&#x0364;nnen:<lb/>
wenn &#x017F;ie u&#x0364;ber den Fußboden gelaufen wa&#x0364;re. Die<lb/>
leichten Fu&#x0364;ße und die rau&#x017F;chende Seide von den<lb/>
Kleidern der Fra&#x0364;ulein wu&#x0364;rden es nicht gehindert<lb/>
haben: denn &#x017F;ie &#x017F;chien auf Luft zu treten, und<lb/>
nichts als Seele zu &#x017F;eyn &#x2012; &#x2012; Sie ging zwey oder<lb/>
dreymal zur Thu&#x0364;re, und wieder zu mir zuru&#x0364;ck:<lb/>
ehe die Sprache u&#x0364;ber den Unwillen die Oberhand<lb/>
behalten konnte. Endlich reu&#x017F;perte &#x017F;ie &#x017F;ich zwey<lb/>
oder dreymal, ihre vernehmliche Stimme wieder<lb/>
zu bekommen &#x2012; &#x2012; O du vera&#x0364;chtlicher und ver-<lb/>
ruchter Lovelace, denke&#x017F;t du, daß ich durch die&#x017F;e<lb/>
arm&#x017F;elige und &#x017F;cha&#x0364;ndliche Ra&#x0364;nke von dir, und<lb/>
die&#x017F;en deinen gottlo&#x017F;en Mitgeno&#x017F;&#x017F;en, nicht hindurch<lb/>
&#x017F;chaue?</p><lb/>
          <p>Du Weib; &#x017F;ie &#x017F;ahe hiebey die Mutter an;<lb/>
das mir einmal Schrecken eingejaget, allezeit<lb/>
misfa&#x0364;llig und zuwider gewe&#x017F;en i&#x017F;t, nun aber von<lb/>
mir verab&#x017F;cheuet wird! Du ha&#x0364;tte&#x017F;t noch einmal;<lb/>
denn von deiner Hand war vielleicht die Zuberei-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">tung;</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[810/0816] liche Lage iſt; ob es gleich einſtens bis an meine Kehle hinauf ſchlug. Ein beſchaͤmter und feiger Miſſethaͤter! ‒ ‒ Sie ſchwieg auch ſtille und ſahe um ſich herum: zuerſt auf mich; hernach auf die Mutter, als wenn ſie ſich nicht weiter vor ihr fuͤrchtete; dann auf Sarah und Marichen; endlich auf die angeklagte Dorcas. ‒ ‒ So aͤuſ- ſerte ſich in dem Augenblick voll ſchrecklicher Ehrfurcht, die herrliche Macht der Unſchuld! Sie wollte gern reden: aber ſie konnte nicht; nur ihre Blicke ſetzten meine Schuld in Verwir- rung. Man haͤtte eine Maus hoͤren koͤnnen: wenn ſie uͤber den Fußboden gelaufen waͤre. Die leichten Fuͤße und die rauſchende Seide von den Kleidern der Fraͤulein wuͤrden es nicht gehindert haben: denn ſie ſchien auf Luft zu treten, und nichts als Seele zu ſeyn ‒ ‒ Sie ging zwey oder dreymal zur Thuͤre, und wieder zu mir zuruͤck: ehe die Sprache uͤber den Unwillen die Oberhand behalten konnte. Endlich reuſperte ſie ſich zwey oder dreymal, ihre vernehmliche Stimme wieder zu bekommen ‒ ‒ O du veraͤchtlicher und ver- ruchter Lovelace, denkeſt du, daß ich durch dieſe armſelige und ſchaͤndliche Raͤnke von dir, und dieſen deinen gottloſen Mitgenoſſen, nicht hindurch ſchaue? Du Weib; ſie ſahe hiebey die Mutter an; das mir einmal Schrecken eingejaget, allezeit misfaͤllig und zuwider geweſen iſt, nun aber von mir verabſcheuet wird! Du haͤtteſt noch einmal; denn von deiner Hand war vielleicht die Zuberei- tung;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/816
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 810. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/816>, abgerufen am 24.11.2024.