Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



mich bisher genöthiget hatte. Bedenke meine
Liebe und was ich ihrentwegen gelitten. Be-
denke ihre Wachsamkeit und wie lange ich auf
der Lauer gewesen war, dieselbe zu betriegen.
Bedenke die Ehrfurcht, worinn mich ihre kaltsin-
nige Tugend und übertriebene Bedenklichkeit ge-
halten hatte, und daß ich vorher nieWals so glück-
lich bey ihr gewesen war. Und denn überlege,
wie ausgelassen meine Entzückungen in diesen
glücklichen Augenblicken seyn mußten! - Dennoch
war ich in meinen Gedanken so wohl von anständi-
ger als edelmüthiger Aufführung. Die folgenden
Zeilen, welche ich in die erste Person versetzt habe,
schicken sich unter allen, worauf ich mich besinnen
kann, am besten zu dieser entzückungsvollen Ge-
legenheit:

Jch kniete gebückt und zwang mit sanftem Muth
Die sträubendschöne Hand mein klopfend Herz
zu drücken.
Hierüber sunken mir die Lippen vor Entzücken,
Und ihrer Finger Raum durchfloß der Seufzer
Fluth.
Mein schneller Puls schlug stark bey jedem hei-
ßen Kuß,
Und jede Sehne brannt in solchem Glücks-
Genuß.

Aber weit gefehlt, daß sie durch ein so feuri-
ges Bezeigen gerührt werden sollte: ob gleich von
einer Mannsperson, gegen welche sie so kurz
vorher eine Achtung gestanden und die sie vor ei-

ner



mich bisher genoͤthiget hatte. Bedenke meine
Liebe und was ich ihrentwegen gelitten. Be-
denke ihre Wachſamkeit und wie lange ich auf
der Lauer geweſen war, dieſelbe zu betriegen.
Bedenke die Ehrfurcht, worinn mich ihre kaltſin-
nige Tugend und uͤbertriebene Bedenklichkeit ge-
halten hatte, und daß ich vorher nieɯals ſo gluͤck-
lich bey ihr geweſen war. Und denn uͤberlege,
wie ausgelaſſen meine Entzuͤckungen in dieſen
gluͤcklichen Augenblicken ſeyn mußten! ‒ Dennoch
war ich in meinen Gedanken ſo wohl von anſtaͤndi-
ger als edelmuͤthiger Auffuͤhrung. Die folgenden
Zeilen, welche ich in die erſte Perſon verſetzt habe,
ſchicken ſich unter allen, worauf ich mich beſinnen
kann, am beſten zu dieſer entzuͤckungsvollen Ge-
legenheit:

Jch kniete gebuͤckt und zwang mit ſanftem Muth
Die ſtraͤubendſchoͤne Hand mein klopfend Herz
zu druͤcken.
Hieruͤber ſunken mir die Lippen vor Entzuͤcken,
Und ihrer Finger Raum durchfloß der Seufzer
Fluth.
Mein ſchneller Puls ſchlug ſtark bey jedem hei-
ßen Kuß,
Und jede Sehne brannt in ſolchem Gluͤcks-
Genuß.

Aber weit gefehlt, daß ſie durch ein ſo feuri-
ges Bezeigen geruͤhrt werden ſollte: ob gleich von
einer Mannsperſon, gegen welche ſie ſo kurz
vorher eine Achtung geſtanden und die ſie vor ei-

ner
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0080" n="74"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
mich bisher geno&#x0364;thiget hatte. Bedenke meine<lb/>
Liebe und was ich ihrentwegen gelitten. Be-<lb/>
denke ihre Wach&#x017F;amkeit und wie lange ich auf<lb/>
der Lauer gewe&#x017F;en war, die&#x017F;elbe zu betriegen.<lb/>
Bedenke die Ehrfurcht, worinn mich ihre kalt&#x017F;in-<lb/>
nige Tugend und u&#x0364;bertriebene Bedenklichkeit ge-<lb/>
halten hatte, und daß ich vorher nie&#x026F;als &#x017F;o glu&#x0364;ck-<lb/>
lich bey ihr gewe&#x017F;en war. Und denn u&#x0364;berlege,<lb/>
wie ausgela&#x017F;&#x017F;en meine Entzu&#x0364;ckungen in die&#x017F;en<lb/>
glu&#x0364;cklichen Augenblicken &#x017F;eyn mußten! &#x2012; Dennoch<lb/>
war ich in meinen Gedanken &#x017F;o wohl von an&#x017F;ta&#x0364;ndi-<lb/>
ger als edelmu&#x0364;thiger Auffu&#x0364;hrung. Die folgenden<lb/>
Zeilen, welche ich in die er&#x017F;te Per&#x017F;on ver&#x017F;etzt habe,<lb/>
&#x017F;chicken &#x017F;ich unter allen, worauf ich mich be&#x017F;innen<lb/>
kann, am be&#x017F;ten zu die&#x017F;er entzu&#x0364;ckungsvollen Ge-<lb/>
legenheit:</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l>Jch kniete gebu&#x0364;ckt und zwang mit &#x017F;anftem Muth</l><lb/>
            <l>Die &#x017F;tra&#x0364;ubend&#x017F;cho&#x0364;ne Hand mein klopfend Herz</l><lb/>
            <l> <hi rendition="#et">zu dru&#x0364;cken.</hi> </l><lb/>
            <l>Hieru&#x0364;ber &#x017F;unken mir die Lippen vor Entzu&#x0364;cken,</l><lb/>
            <l>Und ihrer Finger Raum durchfloß der Seufzer</l><lb/>
            <l> <hi rendition="#et">Fluth.</hi> </l><lb/>
            <l>Mein &#x017F;chneller Puls &#x017F;chlug &#x017F;tark bey jedem hei-</l><lb/>
            <l> <hi rendition="#et">ßen Kuß,</hi> </l><lb/>
            <l>Und jede Sehne brannt in &#x017F;olchem Glu&#x0364;cks-</l><lb/>
            <l> <hi rendition="#et">Genuß.</hi> </l>
          </lg><lb/>
          <p>Aber weit gefehlt, daß &#x017F;ie durch ein &#x017F;o feuri-<lb/>
ges Bezeigen geru&#x0364;hrt werden &#x017F;ollte: ob gleich von<lb/>
einer Mannsper&#x017F;on, gegen welche &#x017F;ie &#x017F;o kurz<lb/>
vorher eine Achtung ge&#x017F;tanden und die &#x017F;ie vor ei-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ner</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[74/0080] mich bisher genoͤthiget hatte. Bedenke meine Liebe und was ich ihrentwegen gelitten. Be- denke ihre Wachſamkeit und wie lange ich auf der Lauer geweſen war, dieſelbe zu betriegen. Bedenke die Ehrfurcht, worinn mich ihre kaltſin- nige Tugend und uͤbertriebene Bedenklichkeit ge- halten hatte, und daß ich vorher nieɯals ſo gluͤck- lich bey ihr geweſen war. Und denn uͤberlege, wie ausgelaſſen meine Entzuͤckungen in dieſen gluͤcklichen Augenblicken ſeyn mußten! ‒ Dennoch war ich in meinen Gedanken ſo wohl von anſtaͤndi- ger als edelmuͤthiger Auffuͤhrung. Die folgenden Zeilen, welche ich in die erſte Perſon verſetzt habe, ſchicken ſich unter allen, worauf ich mich beſinnen kann, am beſten zu dieſer entzuͤckungsvollen Ge- legenheit: Jch kniete gebuͤckt und zwang mit ſanftem Muth Die ſtraͤubendſchoͤne Hand mein klopfend Herz zu druͤcken. Hieruͤber ſunken mir die Lippen vor Entzuͤcken, Und ihrer Finger Raum durchfloß der Seufzer Fluth. Mein ſchneller Puls ſchlug ſtark bey jedem hei- ßen Kuß, Und jede Sehne brannt in ſolchem Gluͤcks- Genuß. Aber weit gefehlt, daß ſie durch ein ſo feuri- ges Bezeigen geruͤhrt werden ſollte: ob gleich von einer Mannsperſon, gegen welche ſie ſo kurz vorher eine Achtung geſtanden und die ſie vor ei- ner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/80
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/80>, abgerufen am 25.11.2024.