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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

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gebe ich hiemit meine Hand, den 19ten Jun.
des obengenannten Jahres.

Clarissa Harlowe.

Nun, Bruder, was soll ich mit einer so lie-
ben Betrügerinn, die mir die Leute besticht, für
Maaßregeln beobachten? Was meynest du? - -
Siehst du nicht, wie sie mich hasset? - - Siehst
du nicht, daß sie sich fest vorgesetzet hat, mir nim-
mermehr zu vergeben? - - Siehst du nicht, bey
dem allen, daß sie sich selbst in den Augen der
Welt schänden muß, wenn sie wirklich entkom-
men sollte? - - Daß sie unsäglichem Unglück,
unsäglicher Gefahr unterworfen seyn muß? - -
Denn wen hat sie, der sie aufnehmen und schü-
tzen möge? - - Und dennoch entschließet sie sich,
es auf alle diese Gefahr zu wagen! - - Ja, was
noch mehr ist, verfällt auf niedrige Kunstgriffe,
und macht sich des herrschenden Lasters unserer
Zeiten, der Verblendung durch Geld, der Beste-
chung, schuldig! O Bruder, Bruder! sage,
schreibe
mir nicht ein Wort mehr zu ihrem Be-
sten. - -

Du hast mir verwiefen, daß ich sie in dieß
Haus gebracht habe. Allein hätte ich sie in ir-
gend ein anderes Haus in England geführet, wo
nur ein Bedienter oder Einwohner gewesen wä-
re, der sich entweder hätte zum Mitleiden be-
wegen,
oder bestechen lassen können: was
würde nothwendig erfolget seyn?

Siehst



gebe ich hiemit meine Hand, den 19ten Jun.
des obengenannten Jahres.

Clariſſa Harlowe.

Nun, Bruder, was ſoll ich mit einer ſo lie-
ben Betruͤgerinn, die mir die Leute beſticht, fuͤr
Maaßregeln beobachten? Was meyneſt du? ‒ ‒
Siehſt du nicht, wie ſie mich haſſet? ‒ ‒ Siehſt
du nicht, daß ſie ſich feſt vorgeſetzet hat, mir nim-
mermehr zu vergeben? ‒ ‒ Siehſt du nicht, bey
dem allen, daß ſie ſich ſelbſt in den Augen der
Welt ſchaͤnden muß, wenn ſie wirklich entkom-
men ſollte? ‒ ‒ Daß ſie unſaͤglichem Ungluͤck,
unſaͤglicher Gefahr unterworfen ſeyn muß? ‒ ‒
Denn wen hat ſie, der ſie aufnehmen und ſchuͤ-
tzen moͤge? ‒ ‒ Und dennoch entſchließet ſie ſich,
es auf alle dieſe Gefahr zu wagen! ‒ ‒ Ja, was
noch mehr iſt, verfaͤllt auf niedrige Kunſtgriffe,
und macht ſich des herrſchenden Laſters unſerer
Zeiten, der Verblendung durch Geld, der Beſte-
chung, ſchuldig! O Bruder, Bruder! ſage,
ſchreibe
mir nicht ein Wort mehr zu ihrem Be-
ſten. ‒ ‒

Du haſt mir verwiefen, daß ich ſie in dieß
Haus gebracht habe. Allein haͤtte ich ſie in ir-
gend ein anderes Haus in England gefuͤhret, wo
nur ein Bedienter oder Einwohner geweſen waͤ-
re, der ſich entweder haͤtte zum Mitleiden be-
wegen,
oder beſtechen laſſen koͤnnen: was
wuͤrde nothwendig erfolget ſeyn?

Siehſt
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[708/0714] gebe ich hiemit meine Hand, den 19ten Jun. des obengenannten Jahres. Clariſſa Harlowe. Nun, Bruder, was ſoll ich mit einer ſo lie- ben Betruͤgerinn, die mir die Leute beſticht, fuͤr Maaßregeln beobachten? Was meyneſt du? ‒ ‒ Siehſt du nicht, wie ſie mich haſſet? ‒ ‒ Siehſt du nicht, daß ſie ſich feſt vorgeſetzet hat, mir nim- mermehr zu vergeben? ‒ ‒ Siehſt du nicht, bey dem allen, daß ſie ſich ſelbſt in den Augen der Welt ſchaͤnden muß, wenn ſie wirklich entkom- men ſollte? ‒ ‒ Daß ſie unſaͤglichem Ungluͤck, unſaͤglicher Gefahr unterworfen ſeyn muß? ‒ ‒ Denn wen hat ſie, der ſie aufnehmen und ſchuͤ- tzen moͤge? ‒ ‒ Und dennoch entſchließet ſie ſich, es auf alle dieſe Gefahr zu wagen! ‒ ‒ Ja, was noch mehr iſt, verfaͤllt auf niedrige Kunſtgriffe, und macht ſich des herrſchenden Laſters unſerer Zeiten, der Verblendung durch Geld, der Beſte- chung, ſchuldig! O Bruder, Bruder! ſage, ſchreibe mir nicht ein Wort mehr zu ihrem Be- ſten. ‒ ‒ Du haſt mir verwiefen, daß ich ſie in dieß Haus gebracht habe. Allein haͤtte ich ſie in ir- gend ein anderes Haus in England gefuͤhret, wo nur ein Bedienter oder Einwohner geweſen waͤ- re, der ſich entweder haͤtte zum Mitleiden be- wegen, oder beſtechen laſſen koͤnnen: was wuͤrde nothwendig erfolget ſeyn? Siehſt

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 708. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/714>, abgerufen am 24.11.2024.