Hiernächst will ich zugeben, daß ihr Stolz in einer Betrachtung gedemüthiget sey: aber ihr Sieg ist in allen übrigen desto größer. Da ich nun glauben kann, daß alle ihre Prüfungen nichts als ein neuer Zuwachs zu ihrer Ehre sind, und daß ich den Grund zu ihrem herrlichen Ruhm in meiner eignen Schande geleget habe: darf man mich denn wohl grausam nennen, wenn ich durch ihren Kummer nicht so gerühret wer- de, als manche seyn würden?
Und warum sollte wohl ihr Herz gebrochen seyn? Jhr Wille ist ja unbeschädigt, unverseh- ret: - - Gegenwärtig, es sey sonst, wie es wolle, ist ihr Wille unbeschädiget, unversehret. Wenn gute Gemüthsfassungen ausgetilget, und zum Verderben des ganzen Herzens böse an ih- rer Stelle eingeführet werden: so heißt das be- schädigen und versehren. Daß ihr Wille aber nicht verderbet, daß ihr Gemüth nicht erniedri- get sey, das hat sie bisher unstreitig bewiesen. Giebt sie Gelegenheit zu ferneren Versuchungen, und hält fest bey ihrer unbefleckten Tugend: was wird sie denn wohl für Vorstellungen unter- halten können, die geschickt wären, ihre guten Grundsätze zu verderben? - - Was für Spu- ren, was für Erinnerungen werden wohl in ih- rer Seele zurückgelassen werden, als nur solche, die ihr einen Abscheu vor ihrem Versucher ein- flößen müssen?
Was ist es denn für ein Unsinn, zu glauben, daß eine solche bloß eingebildete Verletzung, als
sie
Hiernaͤchſt will ich zugeben, daß ihr Stolz in einer Betrachtung gedemuͤthiget ſey: aber ihr Sieg iſt in allen uͤbrigen deſto groͤßer. Da ich nun glauben kann, daß alle ihre Pruͤfungen nichts als ein neuer Zuwachs zu ihrer Ehre ſind, und daß ich den Grund zu ihrem herrlichen Ruhm in meiner eignen Schande geleget habe: darf man mich denn wohl grauſam nennen, wenn ich durch ihren Kummer nicht ſo geruͤhret wer- de, als manche ſeyn wuͤrden?
Und warum ſollte wohl ihr Herz gebrochen ſeyn? Jhr Wille iſt ja unbeſchaͤdigt, unverſeh- ret: ‒ ‒ Gegenwaͤrtig, es ſey ſonſt, wie es wolle, iſt ihr Wille unbeſchaͤdiget, unverſehret. Wenn gute Gemuͤthsfaſſungen ausgetilget, und zum Verderben des ganzen Herzens boͤſe an ih- rer Stelle eingefuͤhret werden: ſo heißt das be- ſchaͤdigen und verſehren. Daß ihr Wille aber nicht verderbet, daß ihr Gemuͤth nicht erniedri- get ſey, das hat ſie bisher unſtreitig bewieſen. Giebt ſie Gelegenheit zu ferneren Verſuchungen, und haͤlt feſt bey ihrer unbefleckten Tugend: was wird ſie denn wohl fuͤr Vorſtellungen unter- halten koͤnnen, die geſchickt waͤren, ihre guten Grundſaͤtze zu verderben? ‒ ‒ Was fuͤr Spu- ren, was fuͤr Erinnerungen werden wohl in ih- rer Seele zuruͤckgelaſſen werden, als nur ſolche, die ihr einen Abſcheu vor ihrem Verſucher ein- floͤßen muͤſſen?
Was iſt es denn fuͤr ein Unſinn, zu glauben, daß eine ſolche bloß eingebildete Verletzung, als
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Hiernaͤchſt will ich zugeben, daß ihr Stolz in
einer Betrachtung gedemuͤthiget ſey: aber ihr
Sieg iſt in allen uͤbrigen deſto groͤßer. Da ich
nun glauben kann, daß alle ihre Pruͤfungen
nichts als ein neuer Zuwachs zu ihrer Ehre ſind,
und daß ich den Grund zu ihrem herrlichen
Ruhm in meiner eignen Schande geleget habe:
darf man mich denn wohl grauſam nennen, wenn
ich durch ihren Kummer nicht ſo geruͤhret wer-
de, als manche ſeyn wuͤrden?
Und warum ſollte wohl ihr Herz gebrochen
ſeyn? Jhr Wille iſt ja unbeſchaͤdigt, unverſeh-
ret: ‒ ‒ Gegenwaͤrtig, es ſey ſonſt, wie es
wolle, iſt ihr Wille unbeſchaͤdiget, unverſehret.
Wenn gute Gemuͤthsfaſſungen ausgetilget, und
zum Verderben des ganzen Herzens boͤſe an ih-
rer Stelle eingefuͤhret werden: ſo heißt das be-
ſchaͤdigen und verſehren. Daß ihr Wille aber
nicht verderbet, daß ihr Gemuͤth nicht erniedri-
get ſey, das hat ſie bisher unſtreitig bewieſen.
Giebt ſie Gelegenheit zu ferneren Verſuchungen,
und haͤlt feſt bey ihrer unbefleckten Tugend: was
wird ſie denn wohl fuͤr Vorſtellungen unter-
halten koͤnnen, die geſchickt waͤren, ihre guten
Grundſaͤtze zu verderben? ‒ ‒ Was fuͤr Spu-
ren, was fuͤr Erinnerungen werden wohl in ih-
rer Seele zuruͤckgelaſſen werden, als nur ſolche,
die ihr einen Abſcheu vor ihrem Verſucher ein-
floͤßen muͤſſen?
Was iſt es denn fuͤr ein Unſinn, zu glauben,
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 703. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/709>, abgerufen am 24.11.2024.
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