Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite


Hier hielte sie inne, seufzete, wandte ihr ange-
nehmes Gesicht von mir und wischte mit ihrem
Schnupftuche die Thränen ab, die sie zurückzu-
halten, und da sie das nicht konnte, vor mir zu
verbergen suchte.

Jch hatte mich, wie ich dir gesagt habe, auf
heftige Leidenschaften, unsinniges Toben, Fliehen,
Reißen, Fluchen gefaßt gemacht. Dergleichen
heftige und vorübergehende Bewegungen, als
Wirkungen von plötzlicher Traurigkeit und
Schaam und Rachbegierde, würden uns auf ei-
nen gleichen Fuß mit einander gesetzet, und die
Rechnungen abgethan haben. Zu diesen bin ich
schon gewohnt: und da nichts, was heftig ist,
lange dauret, hätte ich wünschen mögen, sie zu
finden. Allein da sie in einer so erhabenen Ge-
müthsverfassung stand - - Da sie mich suchte,
den sie doch, wie aus ihrem Versuche davon zu
gehen erhellet, gerne nicht gesehen hätte - - da
sie an keine Rache über sich selbst, wie eine Lucre-
tia, gedachte - - und gleichwohl in einem so
schweren Kummer, der nach ihrem eignen Wor-
ten viel zu groß war, sich durch Worte ausdrü-
cken zu lassen, völlig, ja mit ihren ganzen Ge-
müthe, so zu sagen, versunken lag - - Da sie
im Stande war; so wenig sie auch bis diesen
Morgen selbst ihrer mächtig gewesen; mir eine
solche eintreibende Frage vorzulegen, als wenn sie
meine künftigen Absichten vollkommen errathen
hätte: - - - wie konnte es denn anders seyn,
als daß ich wie ein Narr aussehen, und so, wie

vorher,


Hier hielte ſie inne, ſeufzete, wandte ihr ange-
nehmes Geſicht von mir und wiſchte mit ihrem
Schnupftuche die Thraͤnen ab, die ſie zuruͤckzu-
halten, und da ſie das nicht konnte, vor mir zu
verbergen ſuchte.

Jch hatte mich, wie ich dir geſagt habe, auf
heftige Leidenſchaften, unſinniges Toben, Fliehen,
Reißen, Fluchen gefaßt gemacht. Dergleichen
heftige und voruͤbergehende Bewegungen, als
Wirkungen von ploͤtzlicher Traurigkeit und
Schaam und Rachbegierde, wuͤrden uns auf ei-
nen gleichen Fuß mit einander geſetzet, und die
Rechnungen abgethan haben. Zu dieſen bin ich
ſchon gewohnt: und da nichts, was heftig iſt,
lange dauret, haͤtte ich wuͤnſchen moͤgen, ſie zu
finden. Allein da ſie in einer ſo erhabenen Ge-
muͤthsverfaſſung ſtand ‒ ‒ Da ſie mich ſuchte,
den ſie doch, wie aus ihrem Verſuche davon zu
gehen erhellet, gerne nicht geſehen haͤtte ‒ ‒ da
ſie an keine Rache uͤber ſich ſelbſt, wie eine Lucre-
tia, gedachte ‒ ‒ und gleichwohl in einem ſo
ſchweren Kummer, der nach ihrem eignen Wor-
ten viel zu groß war, ſich durch Worte ausdruͤ-
cken zu laſſen, voͤllig, ja mit ihren ganzen Ge-
muͤthe, ſo zu ſagen, verſunken lag ‒ ‒ Da ſie
im Stande war; ſo wenig ſie auch bis dieſen
Morgen ſelbſt ihrer maͤchtig geweſen; mir eine
ſolche eintreibende Frage vorzulegen, als wenn ſie
meine kuͤnftigen Abſichten vollkommen errathen
haͤtte: ‒ ‒ ‒ wie konnte es denn anders ſeyn,
als daß ich wie ein Narr ausſehen, und ſo, wie

vorher,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0656" n="650"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Hier hielte &#x017F;ie inne, &#x017F;eufzete, wandte ihr ange-<lb/>
nehmes Ge&#x017F;icht von mir und wi&#x017F;chte mit ihrem<lb/>
Schnupftuche die Thra&#x0364;nen ab, die &#x017F;ie zuru&#x0364;ckzu-<lb/>
halten, und da &#x017F;ie das nicht konnte, vor mir zu<lb/>
verbergen &#x017F;uchte.</p><lb/>
          <p>Jch hatte mich, wie ich dir ge&#x017F;agt habe, auf<lb/>
heftige Leiden&#x017F;chaften, un&#x017F;inniges Toben, Fliehen,<lb/>
Reißen, Fluchen gefaßt gemacht. Dergleichen<lb/>
heftige und voru&#x0364;bergehende Bewegungen, als<lb/>
Wirkungen von plo&#x0364;tzlicher Traurigkeit und<lb/>
Schaam und Rachbegierde, wu&#x0364;rden uns auf ei-<lb/>
nen gleichen Fuß mit einander ge&#x017F;etzet, und die<lb/>
Rechnungen abgethan haben. Zu die&#x017F;en bin ich<lb/>
&#x017F;chon gewohnt: und da nichts, was heftig i&#x017F;t,<lb/>
lange dauret, ha&#x0364;tte ich wu&#x0364;n&#x017F;chen mo&#x0364;gen, &#x017F;ie zu<lb/>
finden. Allein da &#x017F;ie in einer &#x017F;o erhabenen Ge-<lb/>
mu&#x0364;thsverfa&#x017F;&#x017F;ung &#x017F;tand &#x2012; &#x2012; Da &#x017F;ie mich &#x017F;uchte,<lb/>
den &#x017F;ie doch, wie aus ihrem Ver&#x017F;uche davon zu<lb/>
gehen erhellet, gerne nicht ge&#x017F;ehen ha&#x0364;tte &#x2012; &#x2012; da<lb/>
&#x017F;ie an keine Rache u&#x0364;ber &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, wie eine Lucre-<lb/>
tia, gedachte &#x2012; &#x2012; und gleichwohl in einem &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chweren Kummer, der nach ihrem eignen Wor-<lb/>
ten viel zu groß war, &#x017F;ich durch Worte ausdru&#x0364;-<lb/>
cken zu la&#x017F;&#x017F;en, vo&#x0364;llig, ja mit ihren ganzen Ge-<lb/>
mu&#x0364;the, &#x017F;o zu &#x017F;agen, ver&#x017F;unken lag &#x2012; &#x2012; Da &#x017F;ie<lb/>
im Stande war; &#x017F;o wenig &#x017F;ie auch bis die&#x017F;en<lb/>
Morgen &#x017F;elb&#x017F;t ihrer ma&#x0364;chtig gewe&#x017F;en; mir eine<lb/>
&#x017F;olche eintreibende Frage vorzulegen, als wenn &#x017F;ie<lb/>
meine ku&#x0364;nftigen Ab&#x017F;ichten vollkommen errathen<lb/>
ha&#x0364;tte: &#x2012; &#x2012; &#x2012; wie konnte es denn anders &#x017F;eyn,<lb/>
als daß ich wie ein Narr aus&#x017F;ehen, und &#x017F;o, wie<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">vorher,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[650/0656] Hier hielte ſie inne, ſeufzete, wandte ihr ange- nehmes Geſicht von mir und wiſchte mit ihrem Schnupftuche die Thraͤnen ab, die ſie zuruͤckzu- halten, und da ſie das nicht konnte, vor mir zu verbergen ſuchte. Jch hatte mich, wie ich dir geſagt habe, auf heftige Leidenſchaften, unſinniges Toben, Fliehen, Reißen, Fluchen gefaßt gemacht. Dergleichen heftige und voruͤbergehende Bewegungen, als Wirkungen von ploͤtzlicher Traurigkeit und Schaam und Rachbegierde, wuͤrden uns auf ei- nen gleichen Fuß mit einander geſetzet, und die Rechnungen abgethan haben. Zu dieſen bin ich ſchon gewohnt: und da nichts, was heftig iſt, lange dauret, haͤtte ich wuͤnſchen moͤgen, ſie zu finden. Allein da ſie in einer ſo erhabenen Ge- muͤthsverfaſſung ſtand ‒ ‒ Da ſie mich ſuchte, den ſie doch, wie aus ihrem Verſuche davon zu gehen erhellet, gerne nicht geſehen haͤtte ‒ ‒ da ſie an keine Rache uͤber ſich ſelbſt, wie eine Lucre- tia, gedachte ‒ ‒ und gleichwohl in einem ſo ſchweren Kummer, der nach ihrem eignen Wor- ten viel zu groß war, ſich durch Worte ausdruͤ- cken zu laſſen, voͤllig, ja mit ihren ganzen Ge- muͤthe, ſo zu ſagen, verſunken lag ‒ ‒ Da ſie im Stande war; ſo wenig ſie auch bis dieſen Morgen ſelbſt ihrer maͤchtig geweſen; mir eine ſolche eintreibende Frage vorzulegen, als wenn ſie meine kuͤnftigen Abſichten vollkommen errathen haͤtte: ‒ ‒ ‒ wie konnte es denn anders ſeyn, als daß ich wie ein Narr ausſehen, und ſo, wie vorher,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/656
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 650. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/656>, abgerufen am 22.11.2024.