Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite


Sie trat mit einem so erhabenen Wesen her-
ein, daß es mich in große Ehrfurcht setzte, und zu
der jämmerlichen Person, die ich in der folgenden
Unterredung spielte, vorbereitete. Eine jämmer-
liche Person, in Wahrheit! - - Allein ich will
ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Sie kam mit geschwinden Schritten herauf,
ganz nahe an mich. Sie hatte ein weißes
Schnupftuch in der Hand. Jhre Augen waren
weder böse, noch gütig, aber vollkommen ernst-
haft. Eine gesetzte Stille und Gemüthsruhe
herrschte in ihrem ganzen Ansehen. Diese schien
die Wirkung einer tiefsinnigen Betrachtung zu
seyn. Und so redete sie mich an mit einem We-
sen und Anstand, denen ich niemals etwas gleich
gesehen habe.

Sie sehen, mein Herr, das elende Frauenzim-
mer vor sich, daß sie für den ihnen gegebenen
Vorzug vor allen Personen ihres Geschlechtes
belohnet haben - - wie es in der That verdienet
hat, belohnet zu werden. Meines Vaters schreckli-
cher Fluch hat schon auf das genaueste seine Wir-
kung über mich gehabt; so weit er das gegenwärtige
Leben betrifft: und es scheint mir nur allzu un-
leugbar, daß an ihnen die Schuld nicht liegen
soll, wenn er nicht gänzlich erfüllet wird; in dem
Verlust meiner Seele so wohl, als meiner Ehre
- - welche ihr, schändlicher Kerl! mir geraubet
habet; und das mit einer so unnatürlichen, so
unmenschlichen Niederträchtigkeit, daß es scheint,
als ob ihr, so gar ihr, nicht das Herz gehabt ha-

bet,


Sie trat mit einem ſo erhabenen Weſen her-
ein, daß es mich in große Ehrfurcht ſetzte, und zu
der jaͤmmerlichen Perſon, die ich in der folgenden
Unterredung ſpielte, vorbereitete. Eine jaͤmmer-
liche Perſon, in Wahrheit! ‒ ‒ Allein ich will
ihr Gerechtigkeit widerfahren laſſen.

Sie kam mit geſchwinden Schritten herauf,
ganz nahe an mich. Sie hatte ein weißes
Schnupftuch in der Hand. Jhre Augen waren
weder boͤſe, noch guͤtig, aber vollkommen ernſt-
haft. Eine geſetzte Stille und Gemuͤthsruhe
herrſchte in ihrem ganzen Anſehen. Dieſe ſchien
die Wirkung einer tiefſinnigen Betrachtung zu
ſeyn. Und ſo redete ſie mich an mit einem We-
ſen und Anſtand, denen ich niemals etwas gleich
geſehen habe.

Sie ſehen, mein Herr, das elende Frauenzim-
mer vor ſich, daß ſie fuͤr den ihnen gegebenen
Vorzug vor allen Perſonen ihres Geſchlechtes
belohnet haben ‒ ‒ wie es in der That verdienet
hat, belohnet zu werden. Meines Vaters ſchreckli-
cher Fluch hat ſchon auf das genaueſte ſeine Wir-
kung uͤber mich gehabt; ſo weit er das gegenwaͤrtige
Leben betrifft: und es ſcheint mir nur allzu un-
leugbar, daß an ihnen die Schuld nicht liegen
ſoll, wenn er nicht gaͤnzlich erfuͤllet wird; in dem
Verluſt meiner Seele ſo wohl, als meiner Ehre
‒ ‒ welche ihr, ſchaͤndlicher Kerl! mir geraubet
habet; und das mit einer ſo unnatuͤrlichen, ſo
unmenſchlichen Niedertraͤchtigkeit, daß es ſcheint,
als ob ihr, ſo gar ihr, nicht das Herz gehabt ha-

bet,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0652" n="646"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Sie trat mit einem &#x017F;o erhabenen We&#x017F;en her-<lb/>
ein, daß es mich in große Ehrfurcht &#x017F;etzte, und zu<lb/>
der ja&#x0364;mmerlichen Per&#x017F;on, die ich in der folgenden<lb/>
Unterredung &#x017F;pielte, vorbereitete. Eine ja&#x0364;mmer-<lb/>
liche Per&#x017F;on, in Wahrheit! &#x2012; &#x2012; Allein ich will<lb/>
ihr Gerechtigkeit widerfahren la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Sie kam mit ge&#x017F;chwinden Schritten herauf,<lb/>
ganz nahe an mich. Sie hatte ein weißes<lb/>
Schnupftuch in der Hand. Jhre Augen waren<lb/>
weder bo&#x0364;&#x017F;e, noch gu&#x0364;tig, aber vollkommen ern&#x017F;t-<lb/>
haft. Eine ge&#x017F;etzte Stille und Gemu&#x0364;thsruhe<lb/>
herr&#x017F;chte in ihrem ganzen An&#x017F;ehen. Die&#x017F;e &#x017F;chien<lb/>
die Wirkung einer tief&#x017F;innigen Betrachtung zu<lb/>
&#x017F;eyn. Und &#x017F;o redete &#x017F;ie mich an mit einem We-<lb/>
&#x017F;en und An&#x017F;tand, denen ich niemals etwas gleich<lb/>
ge&#x017F;ehen habe.</p><lb/>
          <p>Sie &#x017F;ehen, mein Herr, das elende Frauenzim-<lb/>
mer vor &#x017F;ich, daß &#x017F;ie fu&#x0364;r den ihnen gegebenen<lb/>
Vorzug vor allen Per&#x017F;onen ihres Ge&#x017F;chlechtes<lb/>
belohnet haben &#x2012; &#x2012; wie es in der That verdienet<lb/>
hat, belohnet zu werden. Meines Vaters &#x017F;chreckli-<lb/>
cher Fluch hat &#x017F;chon auf das genaue&#x017F;te &#x017F;eine Wir-<lb/>
kung u&#x0364;ber mich gehabt; &#x017F;o weit er das gegenwa&#x0364;rtige<lb/>
Leben betrifft: und es &#x017F;cheint mir nur allzu un-<lb/>
leugbar, daß an ihnen die Schuld nicht liegen<lb/>
&#x017F;oll, wenn er nicht ga&#x0364;nzlich erfu&#x0364;llet wird; in dem<lb/>
Verlu&#x017F;t meiner Seele &#x017F;o wohl, als meiner Ehre<lb/>
&#x2012; &#x2012; welche ihr, &#x017F;cha&#x0364;ndlicher Kerl! mir geraubet<lb/>
habet; und das mit einer &#x017F;o unnatu&#x0364;rlichen, &#x017F;o<lb/>
unmen&#x017F;chlichen Niedertra&#x0364;chtigkeit, daß es &#x017F;cheint,<lb/>
als ob ihr, &#x017F;o gar <hi rendition="#fr">ihr,</hi> nicht das Herz gehabt ha-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">bet,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[646/0652] Sie trat mit einem ſo erhabenen Weſen her- ein, daß es mich in große Ehrfurcht ſetzte, und zu der jaͤmmerlichen Perſon, die ich in der folgenden Unterredung ſpielte, vorbereitete. Eine jaͤmmer- liche Perſon, in Wahrheit! ‒ ‒ Allein ich will ihr Gerechtigkeit widerfahren laſſen. Sie kam mit geſchwinden Schritten herauf, ganz nahe an mich. Sie hatte ein weißes Schnupftuch in der Hand. Jhre Augen waren weder boͤſe, noch guͤtig, aber vollkommen ernſt- haft. Eine geſetzte Stille und Gemuͤthsruhe herrſchte in ihrem ganzen Anſehen. Dieſe ſchien die Wirkung einer tiefſinnigen Betrachtung zu ſeyn. Und ſo redete ſie mich an mit einem We- ſen und Anſtand, denen ich niemals etwas gleich geſehen habe. Sie ſehen, mein Herr, das elende Frauenzim- mer vor ſich, daß ſie fuͤr den ihnen gegebenen Vorzug vor allen Perſonen ihres Geſchlechtes belohnet haben ‒ ‒ wie es in der That verdienet hat, belohnet zu werden. Meines Vaters ſchreckli- cher Fluch hat ſchon auf das genaueſte ſeine Wir- kung uͤber mich gehabt; ſo weit er das gegenwaͤrtige Leben betrifft: und es ſcheint mir nur allzu un- leugbar, daß an ihnen die Schuld nicht liegen ſoll, wenn er nicht gaͤnzlich erfuͤllet wird; in dem Verluſt meiner Seele ſo wohl, als meiner Ehre ‒ ‒ welche ihr, ſchaͤndlicher Kerl! mir geraubet habet; und das mit einer ſo unnatuͤrlichen, ſo unmenſchlichen Niedertraͤchtigkeit, daß es ſcheint, als ob ihr, ſo gar ihr, nicht das Herz gehabt ha- bet,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/652
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 646. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/652>, abgerufen am 24.11.2024.