Jch habe es, Madame, auf Befehl ihres Gemahls: und; dieß setzte sie mit den Händen in der Seite hinzu, wie sie selbst gestanden hat; ich bitte, daß sie sich belieben lassen, wieder hin- auf zu gehen.
Meine Geliebte hätte gern gesprochen: aber sie konnte nicht. Sie ließ ihren Thränen den Lauf, kehrte um und ging in ihre Kammer hin- auf. Dorcas ist zur Rechenschaft gezogen, daß sie dieselbe so weit auf den Weg kommen lassen, ehe sie gesehen worden.
Dieß zeigt, daß sie ihren schönen Verstand wieder bekommt, wie wir schon gestern Abend hoffeten.
Dorcas sagt, sie wäre ihr den ganzen Tag, außer kurz vorher, im Gesichte gewesen, und hät- te ganz ordentlich und ruhig geschienen.
Jch will suchen, sie zu sprechen. Es muß vermuthlich in ihrer eignen Kammer geschehen: denn sie wird wohl schwerlich zu mir in den Saal kommen. Was für Vortheile wird mir die bey unserm Geschlecht gewöhnliche Dreistigkeit über die dem ihrigen eigne Schamhaftigkeit geben: wo sie wieder zu sich selbst gekommen ist! - - Jch, der dreisteste Kerl von der Welt: Sie, ein Frau- enzimmer von der zärtlichsten Gemüthsart. Die reizende Schöne! Mich deucht, ich habe sie vor mir: mit weggewandtem Gesichte, mit Seufzern statt der Sprache - - beschämt - - ihrer Schuld bewußt - - Was für einen sieghasten
Anblick
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Jch habe es, Madame, auf Befehl ihres Gemahls: und; dieß ſetzte ſie mit den Haͤnden in der Seite hinzu, wie ſie ſelbſt geſtanden hat; ich bitte, daß ſie ſich belieben laſſen, wieder hin- auf zu gehen.
Meine Geliebte haͤtte gern geſprochen: aber ſie konnte nicht. Sie ließ ihren Thraͤnen den Lauf, kehrte um und ging in ihre Kammer hin- auf. Dorcas iſt zur Rechenſchaft gezogen, daß ſie dieſelbe ſo weit auf den Weg kommen laſſen, ehe ſie geſehen worden.
Dieß zeigt, daß ſie ihren ſchoͤnen Verſtand wieder bekommt, wie wir ſchon geſtern Abend hoffeten.
Dorcas ſagt, ſie waͤre ihr den ganzen Tag, außer kurz vorher, im Geſichte geweſen, und haͤt- te ganz ordentlich und ruhig geſchienen.
Jch will ſuchen, ſie zu ſprechen. Es muß vermuthlich in ihrer eignen Kammer geſchehen: denn ſie wird wohl ſchwerlich zu mir in den Saal kommen. Was fuͤr Vortheile wird mir die bey unſerm Geſchlecht gewoͤhnliche Dreiſtigkeit uͤber die dem ihrigen eigne Schamhaftigkeit geben: wo ſie wieder zu ſich ſelbſt gekommen iſt! ‒ ‒ Jch, der dreiſteſte Kerl von der Welt: Sie, ein Frau- enzimmer von der zaͤrtlichſten Gemuͤthsart. Die reizende Schoͤne! Mich deucht, ich habe ſie vor mir: mit weggewandtem Geſichte, mit Seufzern ſtatt der Sprache ‒ ‒ beſchaͤmt ‒ ‒ ihrer Schuld bewußt ‒ ‒ Was fuͤr einen ſieghaſten
Anblick
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Jch habe es, Madame, auf Befehl ihres
Gemahls: und; dieß ſetzte ſie mit den Haͤnden
in der Seite hinzu, wie ſie ſelbſt geſtanden hat;
ich bitte, daß ſie ſich belieben laſſen, wieder hin-
auf zu gehen.
Meine Geliebte haͤtte gern geſprochen: aber
ſie konnte nicht. Sie ließ ihren Thraͤnen den
Lauf, kehrte um und ging in ihre Kammer hin-
auf. Dorcas iſt zur Rechenſchaft gezogen, daß
ſie dieſelbe ſo weit auf den Weg kommen laſſen,
ehe ſie geſehen worden.
Dieß zeigt, daß ſie ihren ſchoͤnen Verſtand
wieder bekommt, wie wir ſchon geſtern Abend
hoffeten.
Dorcas ſagt, ſie waͤre ihr den ganzen Tag,
außer kurz vorher, im Geſichte geweſen, und haͤt-
te ganz ordentlich und ruhig geſchienen.
Jch will ſuchen, ſie zu ſprechen. Es muß
vermuthlich in ihrer eignen Kammer geſchehen:
denn ſie wird wohl ſchwerlich zu mir in den Saal
kommen. Was fuͤr Vortheile wird mir die bey
unſerm Geſchlecht gewoͤhnliche Dreiſtigkeit uͤber
die dem ihrigen eigne Schamhaftigkeit geben: wo
ſie wieder zu ſich ſelbſt gekommen iſt! ‒ ‒ Jch,
der dreiſteſte Kerl von der Welt: Sie, ein Frau-
enzimmer von der zaͤrtlichſten Gemuͤthsart. Die
reizende Schoͤne! Mich deucht, ich habe ſie vor
mir: mit weggewandtem Geſichte, mit Seufzern
ſtatt der Sprache ‒ ‒ beſchaͤmt ‒ ‒ ihrer
Schuld bewußt ‒ ‒ Was fuͤr einen ſieghaſten
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 643. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/649>, abgerufen am 24.11.2024.
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