Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



nicht eine Kleinigkeit. Sieht man die Sache
von dieser Seite an: so habe ich dieser unver-
gleichlichen Fräulein, das muß ich gestehen, Leid,
großes Leid gethan.

Allein habe ich nicht zwanzig und abermal
zwanzig von dem schönen Geschlechte gekannt,
die ihre Begriffe von der Tugend hoch zu treiben
geschienen, und doch, wenn es zur Probe gekom-
men ist, von ihrer Strenge nachgelassen haben?
Und wie sollten wir überzeugt werden, daß irgend
eine
von ihnen die Probe halte, bis sie auf die
Probe gesetzet ist?

Wohl tausendmal habe ich schon gesagt, daß
mir noch niemals ein solches Frauenzimmer, als
dieses, vorgekommen. Wäre es geschehen:
so würde ich schwerlich jemals mich an die Fräu-
lein Clarissa Harlowe gewaget haben. Bisher
ist sie ein vollkommener Engel. War das nicht
eben die Sache, welche ich mir von Anfange durch
die Probe auszumachen vorgenommen hatte?
Und war nicht meine Hauptabsicht allezeit, sie zu
gewinnen, daß sie ein Bette, wenn gleich nicht
einen Namen, mit mir haben sollte? Bin ich
aber nun endlich nicht auf dem rechten Wege
dazu? - - Es ist wahr, ich habe mich ihrer frey-
en Einwilligung nicht zu rühmen. Gerade das
Gegentheil. Allein itzo kommt es auf die Probe an,
ob sie nicht dahin zu bringen ist, daß sie sich in ein
Uebel, das nicht zu ändern steht, schicke, und aus der
Noth eine Tugend mache? - - Sie hat Ursache
sich zu beklagen: und ich will gedultig ganze Stun-

den



nicht eine Kleinigkeit. Sieht man die Sache
von dieſer Seite an: ſo habe ich dieſer unver-
gleichlichen Fraͤulein, das muß ich geſtehen, Leid,
großes Leid gethan.

Allein habe ich nicht zwanzig und abermal
zwanzig von dem ſchoͤnen Geſchlechte gekannt,
die ihre Begriffe von der Tugend hoch zu treiben
geſchienen, und doch, wenn es zur Probe gekom-
men iſt, von ihrer Strenge nachgelaſſen haben?
Und wie ſollten wir uͤberzeugt werden, daß irgend
eine
von ihnen die Probe halte, bis ſie auf die
Probe geſetzet iſt?

Wohl tauſendmal habe ich ſchon geſagt, daß
mir noch niemals ein ſolches Frauenzimmer, als
dieſes, vorgekommen. Waͤre es geſchehen:
ſo wuͤrde ich ſchwerlich jemals mich an die Fraͤu-
lein Clariſſa Harlowe gewaget haben. Bisher
iſt ſie ein vollkommener Engel. War das nicht
eben die Sache, welche ich mir von Anfange durch
die Probe auszumachen vorgenommen hatte?
Und war nicht meine Hauptabſicht allezeit, ſie zu
gewinnen, daß ſie ein Bette, wenn gleich nicht
einen Namen, mit mir haben ſollte? Bin ich
aber nun endlich nicht auf dem rechten Wege
dazu? ‒ ‒ Es iſt wahr, ich habe mich ihrer frey-
en Einwilligung nicht zu ruͤhmen. Gerade das
Gegentheil. Allein itzo kommt es auf die Probe an,
ob ſie nicht dahin zu bringen iſt, daß ſie ſich in ein
Uebel, das nicht zu aͤndern ſteht, ſchicke, und aus der
Noth eine Tugend mache? ‒ ‒ Sie hat Urſache
ſich zu beklagen: und ich will gedultig ganze Stun-

den
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0610" n="604"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/><hi rendition="#fr">nicht</hi> eine Kleinigkeit. Sieht man die Sache<lb/>
von die&#x017F;er Seite an: &#x017F;o habe ich die&#x017F;er unver-<lb/>
gleichlichen Fra&#x0364;ulein, das muß ich ge&#x017F;tehen, Leid,<lb/>
großes Leid gethan.</p><lb/>
          <p>Allein habe ich nicht zwanzig und abermal<lb/>
zwanzig von dem &#x017F;cho&#x0364;nen Ge&#x017F;chlechte gekannt,<lb/>
die ihre Begriffe von der Tugend hoch zu treiben<lb/>
ge&#x017F;chienen, und doch, wenn es zur Probe gekom-<lb/>
men i&#x017F;t, von ihrer Strenge nachgela&#x017F;&#x017F;en haben?<lb/>
Und wie &#x017F;ollten wir u&#x0364;berzeugt werden, daß <hi rendition="#fr">irgend<lb/>
eine</hi> von ihnen die Probe halte, bis &#x017F;ie auf die<lb/>
Probe ge&#x017F;etzet i&#x017F;t?</p><lb/>
          <p>Wohl tau&#x017F;endmal habe ich &#x017F;chon ge&#x017F;agt, daß<lb/>
mir noch niemals ein &#x017F;olches Frauenzimmer, als<lb/>
die&#x017F;es, vorgekommen. <hi rendition="#fr">Wa&#x0364;re</hi> es <hi rendition="#fr">ge&#x017F;chehen:</hi><lb/>
&#x017F;o wu&#x0364;rde ich &#x017F;chwerlich jemals mich an die Fra&#x0364;u-<lb/>
lein Clari&#x017F;&#x017F;a Harlowe gewaget haben. Bisher<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;ie ein vollkommener Engel. War das nicht<lb/>
eben die Sache, welche ich mir von Anfange durch<lb/>
die Probe auszumachen vorgenommen hatte?<lb/>
Und war nicht meine Hauptab&#x017F;icht allezeit, &#x017F;ie zu<lb/>
gewinnen, daß &#x017F;ie ein Bette, wenn gleich nicht<lb/>
einen Namen, mit mir haben &#x017F;ollte? Bin ich<lb/>
aber nun endlich nicht auf dem rechten Wege<lb/>
dazu? &#x2012; &#x2012; Es i&#x017F;t wahr, ich habe mich ihrer frey-<lb/>
en Einwilligung nicht zu ru&#x0364;hmen. Gerade das<lb/>
Gegentheil. Allein itzo kommt es auf die Probe an,<lb/>
ob &#x017F;ie nicht dahin zu bringen i&#x017F;t, daß &#x017F;ie &#x017F;ich in ein<lb/>
Uebel, das nicht zu a&#x0364;ndern &#x017F;teht, &#x017F;chicke, und aus der<lb/>
Noth eine Tugend mache? &#x2012; &#x2012; Sie hat Ur&#x017F;ache<lb/>
&#x017F;ich zu beklagen: und ich will gedultig ganze Stun-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[604/0610] nicht eine Kleinigkeit. Sieht man die Sache von dieſer Seite an: ſo habe ich dieſer unver- gleichlichen Fraͤulein, das muß ich geſtehen, Leid, großes Leid gethan. Allein habe ich nicht zwanzig und abermal zwanzig von dem ſchoͤnen Geſchlechte gekannt, die ihre Begriffe von der Tugend hoch zu treiben geſchienen, und doch, wenn es zur Probe gekom- men iſt, von ihrer Strenge nachgelaſſen haben? Und wie ſollten wir uͤberzeugt werden, daß irgend eine von ihnen die Probe halte, bis ſie auf die Probe geſetzet iſt? Wohl tauſendmal habe ich ſchon geſagt, daß mir noch niemals ein ſolches Frauenzimmer, als dieſes, vorgekommen. Waͤre es geſchehen: ſo wuͤrde ich ſchwerlich jemals mich an die Fraͤu- lein Clariſſa Harlowe gewaget haben. Bisher iſt ſie ein vollkommener Engel. War das nicht eben die Sache, welche ich mir von Anfange durch die Probe auszumachen vorgenommen hatte? Und war nicht meine Hauptabſicht allezeit, ſie zu gewinnen, daß ſie ein Bette, wenn gleich nicht einen Namen, mit mir haben ſollte? Bin ich aber nun endlich nicht auf dem rechten Wege dazu? ‒ ‒ Es iſt wahr, ich habe mich ihrer frey- en Einwilligung nicht zu ruͤhmen. Gerade das Gegentheil. Allein itzo kommt es auf die Probe an, ob ſie nicht dahin zu bringen iſt, daß ſie ſich in ein Uebel, das nicht zu aͤndern ſteht, ſchicke, und aus der Noth eine Tugend mache? ‒ ‒ Sie hat Urſache ſich zu beklagen: und ich will gedultig ganze Stun- den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/610
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 604. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/610>, abgerufen am 23.11.2024.