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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

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sen zufrieden sind? So anstößig diese Grund-
sätze einem bedächtlichen Gemüthe seyn müssen:
so sind es doch die Grundsätze von Tausenden,
die mit dem andern Geschlechte nicht so umgehen
würden, als ich gethan habe, selbst wenn ich es in
meiner Gewalt gehabt. Es sind Grundsätze, die
von denselben so oft zur Uebung gebracht werden,
als es die Gelegenheit oder ihr Muth erlauben
will - - Dergleichen Leute haben also kein Recht
mich zu beschuldigen.

Du stellest abermal vor, was sie von ihren
Angehörigen leiden müssen. Allein auf die Vor-
stellung habe ich schon zu oft geantwortet, daß ich
nöthig haben sollte, itzo mehr zu sagen, als daß
sie nicht um meinentwillen gelitten hat. Denn
hat sie nicht der Bosheit ihres raubsüchtigen Bru-
ders und ihrer neidischen Schwester zum Opfer
werden müssen, die bloß auf eine Gelegenheit ge-
wartet, sie bey ihren andern Verwandten gänz-
lich auszuthun und diese, als die erste, ergriffen
haben, sie aus dem Hause, und, wie es sich fügte,
mir in die Armen zu treiben? Du weißt, wie
wenig Neigung sie dazu gehabt.

Was ihre eigne Sünden betrifft: o! für wie
viele hat dieß schöne Kind der Liebe und mir
Rechenschaft zu geben! Hat sie mir nicht zwan-
zigmal und abermal zwanzigmal ins Gesicht ge-
saget, daß sie nicht aus Gunst gegen mich den
verhaßten Solmes abgewiesen habe? Und wie
oft hat sie sich nicht erboten, sich meiner für ein
lediges Leben zu begeben, wenn die unversöhnli-

chen
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ſen zufrieden ſind? So anſtoͤßig dieſe Grund-
ſaͤtze einem bedaͤchtlichen Gemuͤthe ſeyn muͤſſen:
ſo ſind es doch die Grundſaͤtze von Tauſenden,
die mit dem andern Geſchlechte nicht ſo umgehen
wuͤrden, als ich gethan habe, ſelbſt wenn ich es in
meiner Gewalt gehabt. Es ſind Grundſaͤtze, die
von denſelben ſo oft zur Uebung gebracht werden,
als es die Gelegenheit oder ihr Muth erlauben
will ‒ ‒ Dergleichen Leute haben alſo kein Recht
mich zu beſchuldigen.

Du ſtelleſt abermal vor, was ſie von ihren
Angehoͤrigen leiden muͤſſen. Allein auf die Vor-
ſtellung habe ich ſchon zu oft geantwortet, daß ich
noͤthig haben ſollte, itzo mehr zu ſagen, als daß
ſie nicht um meinentwillen gelitten hat. Denn
hat ſie nicht der Bosheit ihres raubſuͤchtigen Bru-
ders und ihrer neidiſchen Schweſter zum Opfer
werden muͤſſen, die bloß auf eine Gelegenheit ge-
wartet, ſie bey ihren andern Verwandten gaͤnz-
lich auszuthun und dieſe, als die erſte, ergriffen
haben, ſie aus dem Hauſe, und, wie es ſich fuͤgte,
mir in die Armen zu treiben? Du weißt, wie
wenig Neigung ſie dazu gehabt.

Was ihre eigne Suͤnden betrifft: o! fuͤr wie
viele hat dieß ſchoͤne Kind der Liebe und mir
Rechenſchaft zu geben! Hat ſie mir nicht zwan-
zigmal und abermal zwanzigmal ins Geſicht ge-
ſaget, daß ſie nicht aus Gunſt gegen mich den
verhaßten Solmes abgewieſen habe? Und wie
oft hat ſie ſich nicht erboten, ſich meiner fuͤr ein
lediges Leben zu begeben, wenn die unverſoͤhnli-

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[53/0059] ſen zufrieden ſind? So anſtoͤßig dieſe Grund- ſaͤtze einem bedaͤchtlichen Gemuͤthe ſeyn muͤſſen: ſo ſind es doch die Grundſaͤtze von Tauſenden, die mit dem andern Geſchlechte nicht ſo umgehen wuͤrden, als ich gethan habe, ſelbſt wenn ich es in meiner Gewalt gehabt. Es ſind Grundſaͤtze, die von denſelben ſo oft zur Uebung gebracht werden, als es die Gelegenheit oder ihr Muth erlauben will ‒ ‒ Dergleichen Leute haben alſo kein Recht mich zu beſchuldigen. Du ſtelleſt abermal vor, was ſie von ihren Angehoͤrigen leiden muͤſſen. Allein auf die Vor- ſtellung habe ich ſchon zu oft geantwortet, daß ich noͤthig haben ſollte, itzo mehr zu ſagen, als daß ſie nicht um meinentwillen gelitten hat. Denn hat ſie nicht der Bosheit ihres raubſuͤchtigen Bru- ders und ihrer neidiſchen Schweſter zum Opfer werden muͤſſen, die bloß auf eine Gelegenheit ge- wartet, ſie bey ihren andern Verwandten gaͤnz- lich auszuthun und dieſe, als die erſte, ergriffen haben, ſie aus dem Hauſe, und, wie es ſich fuͤgte, mir in die Armen zu treiben? Du weißt, wie wenig Neigung ſie dazu gehabt. Was ihre eigne Suͤnden betrifft: o! fuͤr wie viele hat dieß ſchoͤne Kind der Liebe und mir Rechenſchaft zu geben! Hat ſie mir nicht zwan- zigmal und abermal zwanzigmal ins Geſicht ge- ſaget, daß ſie nicht aus Gunſt gegen mich den verhaßten Solmes abgewieſen habe? Und wie oft hat ſie ſich nicht erboten, ſich meiner fuͤr ein lediges Leben zu begeben, wenn die unverſoͤhnli- chen D 3

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/59>, abgerufen am 23.11.2024.