Ueber dieses ist in Erwägung zu ziehen, daß sie nach ihren eignen Begriffen nicht mehr als eine Hälfte von ihrem guten Namen wieder er- langen kann; wenn wir uns nun einander heyra- then sollten: so viel hat sie in ihrer Einbildung da- durch gelitten, daß sie mit mir davon gegangen ist. Wird sie denn nicht beständig über den Verlust der andern Hälfte misvergnügt und traurig seyn? - - Muß sie aber um der Hälfte willen ein so unzufriednes und klägliches Leben führen: kann sie denn nicht eben so gut um des Ganzen willen misvergnügt und traurig seyn?
Es wird auch ihre vorgenommene Buße, das muß ich dir ebenfalls sagen, in diesem Falle nicht halb so vollkommen seyn, wo sie nicht fällt, als wenn sie fällt. Denn was für eine thörich- te Person wird sie unter den Bußfertigen vorstel- len, da sie nichts hat, wofür sie Buße thue? - - Du weißt, sie thut sich selbst darauf etwas zu gute, und macht mir einen Vorwurf daraus, daß sie nicht aus freyen Willen mit mir davon ge- gangen, sondern sich selbst durch List gestohlen ist.
Verweise mir nur nicht, daß ich die so oft wiederholten Gelübde vorsetzlich breche. Sie will ja nicht zulassen, wie du siehest, daß ich sie er- fülle. Und wollte sie es: so habe ich noch dieß zu sagen, daß ich zu der Zeit, da ich die feyerlich- sten Gelübde that, vollkommen entschlossen gewe- sen bin, sie zu halten. Welcher Fürst aber hält sich verbunden, die Gesetze der heiligst beschwor-
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Ueber dieſes iſt in Erwaͤgung zu ziehen, daß ſie nach ihren eignen Begriffen nicht mehr als eine Haͤlfte von ihrem guten Namen wieder er- langen kann; wenn wir uns nun einander heyra- then ſollten: ſo viel hat ſie in ihrer Einbildung da- durch gelitten, daß ſie mit mir davon gegangen iſt. Wird ſie denn nicht beſtaͤndig uͤber den Verluſt der andern Haͤlfte misvergnuͤgt und traurig ſeyn? ‒ ‒ Muß ſie aber um der Haͤlfte willen ein ſo unzufriednes und klaͤgliches Leben fuͤhren: kann ſie denn nicht eben ſo gut um des Ganzen willen misvergnuͤgt und traurig ſeyn?
Es wird auch ihre vorgenommene Buße, das muß ich dir ebenfalls ſagen, in dieſem Falle nicht halb ſo vollkommen ſeyn, wo ſie nicht faͤllt, als wenn ſie faͤllt. Denn was fuͤr eine thoͤrich- te Perſon wird ſie unter den Bußfertigen vorſtel- len, da ſie nichts hat, wofuͤr ſie Buße thue? ‒ ‒ Du weißt, ſie thut ſich ſelbſt darauf etwas zu gute, und macht mir einen Vorwurf daraus, daß ſie nicht aus freyen Willen mit mir davon ge- gangen, ſondern ſich ſelbſt durch Liſt geſtohlen iſt.
Verweiſe mir nur nicht, daß ich die ſo oft wiederholten Geluͤbde vorſetzlich breche. Sie will ja nicht zulaſſen, wie du ſieheſt, daß ich ſie er- fuͤlle. Und wollte ſie es: ſo habe ich noch dieß zu ſagen, daß ich zu der Zeit, da ich die feyerlich- ſten Geluͤbde that, vollkommen entſchloſſen gewe- ſen bin, ſie zu halten. Welcher Fuͤrſt aber haͤlt ſich verbunden, die Geſetze der heiligſt beſchwor-
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Ueber dieſes iſt in Erwaͤgung zu ziehen, daß
ſie nach ihren eignen Begriffen nicht mehr als
eine Haͤlfte von ihrem guten Namen wieder er-
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then ſollten: ſo viel hat ſie in ihrer Einbildung da-
durch gelitten, daß ſie mit mir davon gegangen
iſt. Wird ſie denn nicht beſtaͤndig uͤber den
Verluſt der andern Haͤlfte misvergnuͤgt und
traurig ſeyn? ‒ ‒ Muß ſie aber um der Haͤlfte
willen ein ſo unzufriednes und klaͤgliches Leben
fuͤhren: kann ſie denn nicht eben ſo gut um des
Ganzen willen misvergnuͤgt und traurig ſeyn?
Es wird auch ihre vorgenommene Buße,
das muß ich dir ebenfalls ſagen, in dieſem Falle
nicht halb ſo vollkommen ſeyn, wo ſie nicht faͤllt,
als wenn ſie faͤllt. Denn was fuͤr eine thoͤrich-
te Perſon wird ſie unter den Bußfertigen vorſtel-
len, da ſie nichts hat, wofuͤr ſie Buße thue? ‒ ‒
Du weißt, ſie thut ſich ſelbſt darauf etwas zu
gute, und macht mir einen Vorwurf daraus, daß
ſie nicht aus freyen Willen mit mir davon ge-
gangen, ſondern ſich ſelbſt durch Liſt geſtohlen
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Verweiſe mir nur nicht, daß ich die ſo oft
wiederholten Geluͤbde vorſetzlich breche. Sie will
ja nicht zulaſſen, wie du ſieheſt, daß ich ſie er-
fuͤlle. Und wollte ſie es: ſo habe ich noch dieß
zu ſagen, daß ich zu der Zeit, da ich die feyerlich-
ſten Geluͤbde that, vollkommen entſchloſſen gewe-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 549. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/555>, abgerufen am 23.11.2024.
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