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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

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keit zeugte, und dreymal mit einem Auge, das auf
Mitleid und Erweichung zielte: aber die güti-
gen Strahlen desselben wurden eben so oft zurück
gehaschet, wie ich sagen möchte, und ihr Ge-
sicht von mir gewandt; nicht anders, als wenn
ihrem angenehmen Auge nicht zu trauen wäre,
und es gegen meine scharfen Augen nicht Stand
halten könnte, die ein verlohrnes Herz in den ih-
rigen aufsuchten und sich selbst bis in ihre Seele
zu dringen bestrebten.

Mehr als einmal ergriff ich ihre Hand. Sie
sträubete sich nicht sehr wider diese Freyheit.
Jch drückte sie auch einmal an meine Lippen.
Sie war nicht sehr zornig darüber. Es ist wahr,
sie nahm dabey ein verdriesliches Gesicht an: aber
ein verdriesliches Gesicht, das mehr von Verwir-
rung als von Unwillen zeugte.

Wie kam die theure Seele, die mit einem so
zarten Kleide umgeben ist, zu aller ihrer Stand-
haftigkeit (*)? - - War es nothwendig, daß
das geschäfftige finstere Wesen eines Tyrannen
von einem Vater mit einer solchen leidenden Ge-
fälligkeit einer Mutter ohne allen eignen Willen
vermischet würde, in der Tochter eine Bestän-
digkeit, eine Gleichmüthigkeit, eine Standhaf-
tigkeit, deren sich vorher niemals ein Frauenzim-
mer zu rühmen gehabt, hervorzubringen? - -
Jst es so: so ist sie dem herrischen Vater mehr

ver-
(*) Siehe in dem I. Th. S. 81. 82. 142. 211. 212
was sie selbst von dieser Standhaftigkeit saget, die
Herr Lovelace, ob er gleich dadurch nach Verdienst
leidet, sich nicht entbrechen kann zu bewundern.



keit zeugte, und dreymal mit einem Auge, das auf
Mitleid und Erweichung zielte: aber die guͤti-
gen Strahlen deſſelben wurden eben ſo oft zuruͤck
gehaſchet, wie ich ſagen moͤchte, und ihr Ge-
ſicht von mir gewandt; nicht anders, als wenn
ihrem angenehmen Auge nicht zu trauen waͤre,
und es gegen meine ſcharfen Augen nicht Stand
halten koͤnnte, die ein verlohrnes Herz in den ih-
rigen aufſuchten und ſich ſelbſt bis in ihre Seele
zu dringen beſtrebten.

Mehr als einmal ergriff ich ihre Hand. Sie
ſtraͤubete ſich nicht ſehr wider dieſe Freyheit.
Jch druͤckte ſie auch einmal an meine Lippen.
Sie war nicht ſehr zornig daruͤber. Es iſt wahr,
ſie nahm dabey ein verdriesliches Geſicht an: aber
ein verdriesliches Geſicht, das mehr von Verwir-
rung als von Unwillen zeugte.

Wie kam die theure Seele, die mit einem ſo
zarten Kleide umgeben iſt, zu aller ihrer Stand-
haftigkeit (*)? ‒ ‒ War es nothwendig, daß
das geſchaͤfftige finſtere Weſen eines Tyrannen
von einem Vater mit einer ſolchen leidenden Ge-
faͤlligkeit einer Mutter ohne allen eignen Willen
vermiſchet wuͤrde, in der Tochter eine Beſtaͤn-
digkeit, eine Gleichmuͤthigkeit, eine Standhaf-
tigkeit, deren ſich vorher niemals ein Frauenzim-
mer zu ruͤhmen gehabt, hervorzubringen? ‒ ‒
Jſt es ſo: ſo iſt ſie dem herriſchen Vater mehr

ver-
(*) Siehe in dem I. Th. S. 81. 82. 142. 211. 212
was ſie ſelbſt von dieſer Standhaftigkeit ſaget, die
Herr Lovelace, ob er gleich dadurch nach Verdienſt
leidet, ſich nicht entbrechen kann zu bewundern.
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[495/0501] keit zeugte, und dreymal mit einem Auge, das auf Mitleid und Erweichung zielte: aber die guͤti- gen Strahlen deſſelben wurden eben ſo oft zuruͤck gehaſchet, wie ich ſagen moͤchte, und ihr Ge- ſicht von mir gewandt; nicht anders, als wenn ihrem angenehmen Auge nicht zu trauen waͤre, und es gegen meine ſcharfen Augen nicht Stand halten koͤnnte, die ein verlohrnes Herz in den ih- rigen aufſuchten und ſich ſelbſt bis in ihre Seele zu dringen beſtrebten. Mehr als einmal ergriff ich ihre Hand. Sie ſtraͤubete ſich nicht ſehr wider dieſe Freyheit. Jch druͤckte ſie auch einmal an meine Lippen. Sie war nicht ſehr zornig daruͤber. Es iſt wahr, ſie nahm dabey ein verdriesliches Geſicht an: aber ein verdriesliches Geſicht, das mehr von Verwir- rung als von Unwillen zeugte. Wie kam die theure Seele, die mit einem ſo zarten Kleide umgeben iſt, zu aller ihrer Stand- haftigkeit (*)? ‒ ‒ War es nothwendig, daß das geſchaͤfftige finſtere Weſen eines Tyrannen von einem Vater mit einer ſolchen leidenden Ge- faͤlligkeit einer Mutter ohne allen eignen Willen vermiſchet wuͤrde, in der Tochter eine Beſtaͤn- digkeit, eine Gleichmuͤthigkeit, eine Standhaf- tigkeit, deren ſich vorher niemals ein Frauenzim- mer zu ruͤhmen gehabt, hervorzubringen? ‒ ‒ Jſt es ſo: ſo iſt ſie dem herriſchen Vater mehr ver- (*) Siehe in dem I. Th. S. 81. 82. 142. 211. 212 was ſie ſelbſt von dieſer Standhaftigkeit ſaget, die Herr Lovelace, ob er gleich dadurch nach Verdienſt leidet, ſich nicht entbrechen kann zu bewundern.

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 495. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/501>, abgerufen am 23.11.2024.