Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



Jch habe mir wohl in öffentlichen Gesellschaften
bey Frauenzimmern von Stande größere Frey-
heiten genommen: man hat nur darüber gelacht,
und in meiner Gegenwart Halstuch und Kopf-
zeug wieder in Ordnung gebracht und die Röcke
wieder zu rechte geschüttelt. Niemals hat sich
eine Mannsperson in der Welt, unter derglei-
chen Umständen; bey einem solchen Vorsatze, als
ich hatte; und so gereizet, als ich war, theils durch
ihr Geschlecht, theils durch die Triebe einer hefti-
gen Leidenschaft; so anständig aufgeführet. Was
weiß sie mir nun aber für Dank?

Dieser erbärmliche Kerl, Bruder, war wie-
derum einer von der unglücklichen Bande, wozu
du selbst gehörest. Seine Gründe dienten nur
mich in eben dem Vorsatze zu bestärken, welchen
ich nach seiner Absicht um derselben willen aufge-
ben sollte. Hätte er mich mir selbst und meiner
natürlichen Zärtlichkeit, so gerühret, als ich da-
mals war, da die Fräulein wegging, überlassen,
und sich niedergesetzt und verdriesliche Gesichter
gemacht und nichts gesagt: so wäre es gar leicht
möglich gewesen, daß ich den Stuhl gegen ihm
über, wovon sie aufgestanden war, genommen
und auf eine halbe Stunde mit ihm gemeinschaft-
lich geheulet und geschrien hätte. Aber daß der
elende Kerl mit mir streiter! Daß er sich an-
maßet einen Menschen zu überzeugen, der in
seinem Herzen überführt ist, daß er nicht recht
thut! - - Er mußte ja nothwendig denken, daß
mich dieses reizen würde, zu versuchen, was ich

zu



Jch habe mir wohl in oͤffentlichen Geſellſchaften
bey Frauenzimmern von Stande groͤßere Frey-
heiten genommen: man hat nur daruͤber gelacht,
und in meiner Gegenwart Halstuch und Kopf-
zeug wieder in Ordnung gebracht und die Roͤcke
wieder zu rechte geſchuͤttelt. Niemals hat ſich
eine Mannsperſon in der Welt, unter derglei-
chen Umſtaͤnden; bey einem ſolchen Vorſatze, als
ich hatte; und ſo gereizet, als ich war, theils durch
ihr Geſchlecht, theils durch die Triebe einer hefti-
gen Leidenſchaft; ſo anſtaͤndig aufgefuͤhret. Was
weiß ſie mir nun aber fuͤr Dank?

Dieſer erbaͤrmliche Kerl, Bruder, war wie-
derum einer von der ungluͤcklichen Bande, wozu
du ſelbſt gehoͤreſt. Seine Gruͤnde dienten nur
mich in eben dem Vorſatze zu beſtaͤrken, welchen
ich nach ſeiner Abſicht um derſelben willen aufge-
ben ſollte. Haͤtte er mich mir ſelbſt und meiner
natuͤrlichen Zaͤrtlichkeit, ſo geruͤhret, als ich da-
mals war, da die Fraͤulein wegging, uͤberlaſſen,
und ſich niedergeſetzt und verdriesliche Geſichter
gemacht und nichts geſagt: ſo waͤre es gar leicht
moͤglich geweſen, daß ich den Stuhl gegen ihm
uͤber, wovon ſie aufgeſtanden war, genommen
und auf eine halbe Stunde mit ihm gemeinſchaft-
lich geheulet und geſchrien haͤtte. Aber daß der
elende Kerl mit mir ſtreiter! Daß er ſich an-
maßet einen Menſchen zu uͤberzeugen, der in
ſeinem Herzen uͤberfuͤhrt iſt, daß er nicht recht
thut! ‒ ‒ Er mußte ja nothwendig denken, daß
mich dieſes reizen wuͤrde, zu verſuchen, was ich

zu
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0451" n="445"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Jch habe mir wohl in o&#x0364;ffentlichen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaften<lb/>
bey Frauenzimmern von Stande gro&#x0364;ßere Frey-<lb/>
heiten genommen: man hat nur daru&#x0364;ber gelacht,<lb/>
und in meiner Gegenwart Halstuch und Kopf-<lb/>
zeug wieder in Ordnung gebracht und die Ro&#x0364;cke<lb/>
wieder zu rechte ge&#x017F;chu&#x0364;ttelt. Niemals hat &#x017F;ich<lb/>
eine Mannsper&#x017F;on in der Welt, unter derglei-<lb/>
chen Um&#x017F;ta&#x0364;nden; bey einem &#x017F;olchen Vor&#x017F;atze, als<lb/>
ich hatte; und &#x017F;o gereizet, als ich war, theils durch<lb/>
ihr Ge&#x017F;chlecht, theils durch die Triebe einer hefti-<lb/>
gen Leiden&#x017F;chaft; &#x017F;o an&#x017F;ta&#x0364;ndig aufgefu&#x0364;hret. Was<lb/>
weiß &#x017F;ie mir nun aber fu&#x0364;r Dank?</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;er erba&#x0364;rmliche Kerl, Bruder, war wie-<lb/>
derum einer von der unglu&#x0364;cklichen Bande, wozu<lb/>
du &#x017F;elb&#x017F;t geho&#x0364;re&#x017F;t. Seine Gru&#x0364;nde dienten nur<lb/>
mich in eben dem Vor&#x017F;atze zu be&#x017F;ta&#x0364;rken, welchen<lb/>
ich nach &#x017F;einer Ab&#x017F;icht um der&#x017F;elben willen aufge-<lb/>
ben &#x017F;ollte. Ha&#x0364;tte er mich mir &#x017F;elb&#x017F;t und meiner<lb/>
natu&#x0364;rlichen Za&#x0364;rtlichkeit, &#x017F;o geru&#x0364;hret, als ich da-<lb/>
mals war, da die Fra&#x0364;ulein wegging, u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
und &#x017F;ich niederge&#x017F;etzt und verdriesliche Ge&#x017F;ichter<lb/>
gemacht und nichts ge&#x017F;agt: &#x017F;o wa&#x0364;re es gar leicht<lb/>
mo&#x0364;glich gewe&#x017F;en, daß ich den Stuhl gegen ihm<lb/>
u&#x0364;ber, wovon &#x017F;ie aufge&#x017F;tanden war, genommen<lb/>
und auf eine halbe Stunde mit ihm gemein&#x017F;chaft-<lb/>
lich geheulet und ge&#x017F;chrien ha&#x0364;tte. Aber daß der<lb/>
elende Kerl mit mir <hi rendition="#fr">&#x017F;treiter!</hi> Daß er &#x017F;ich an-<lb/>
maßet einen Men&#x017F;chen zu <hi rendition="#fr">u&#x0364;berzeugen,</hi> der in<lb/>
&#x017F;einem Herzen u&#x0364;berfu&#x0364;hrt i&#x017F;t, daß er nicht recht<lb/>
thut! &#x2012; &#x2012; Er mußte ja nothwendig denken, daß<lb/>
mich die&#x017F;es reizen wu&#x0364;rde, zu ver&#x017F;uchen, was ich<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">zu</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[445/0451] Jch habe mir wohl in oͤffentlichen Geſellſchaften bey Frauenzimmern von Stande groͤßere Frey- heiten genommen: man hat nur daruͤber gelacht, und in meiner Gegenwart Halstuch und Kopf- zeug wieder in Ordnung gebracht und die Roͤcke wieder zu rechte geſchuͤttelt. Niemals hat ſich eine Mannsperſon in der Welt, unter derglei- chen Umſtaͤnden; bey einem ſolchen Vorſatze, als ich hatte; und ſo gereizet, als ich war, theils durch ihr Geſchlecht, theils durch die Triebe einer hefti- gen Leidenſchaft; ſo anſtaͤndig aufgefuͤhret. Was weiß ſie mir nun aber fuͤr Dank? Dieſer erbaͤrmliche Kerl, Bruder, war wie- derum einer von der ungluͤcklichen Bande, wozu du ſelbſt gehoͤreſt. Seine Gruͤnde dienten nur mich in eben dem Vorſatze zu beſtaͤrken, welchen ich nach ſeiner Abſicht um derſelben willen aufge- ben ſollte. Haͤtte er mich mir ſelbſt und meiner natuͤrlichen Zaͤrtlichkeit, ſo geruͤhret, als ich da- mals war, da die Fraͤulein wegging, uͤberlaſſen, und ſich niedergeſetzt und verdriesliche Geſichter gemacht und nichts geſagt: ſo waͤre es gar leicht moͤglich geweſen, daß ich den Stuhl gegen ihm uͤber, wovon ſie aufgeſtanden war, genommen und auf eine halbe Stunde mit ihm gemeinſchaft- lich geheulet und geſchrien haͤtte. Aber daß der elende Kerl mit mir ſtreiter! Daß er ſich an- maßet einen Menſchen zu uͤberzeugen, der in ſeinem Herzen uͤberfuͤhrt iſt, daß er nicht recht thut! ‒ ‒ Er mußte ja nothwendig denken, daß mich dieſes reizen wuͤrde, zu verſuchen, was ich zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/451
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/451>, abgerufen am 23.11.2024.