nen; welches bey einem so feinen Verstande, als sie besitzet, ihr in ihrem Unglücke eine neue herzna- gende Betrachtung seyn wird. Und doch ist der Streit zwischen euch sehr ungleich, wie er zwi- schen der bloßen Unschuld und einer bewaffneten Bosheit seyn muß. Denn in einem jeden an- dern Stücke übertreffen ihre Gaben die deinigen sehr weit. Das gestehst du selbst - - Wie un- erträglich wird ihr Schicksal seyn: wofern du nicht endlich durch deine wiederhohlten Gewis- sensbisse überwunden wirst!
Zuerst, als ich die Erlaubniß hatte, sie zu se- hen, ehe ich ihr besonderes und rührendes We- sen bemerkte, ehe ich sie sprechen hörte, vermuthe- te ich in der That, daß sie eben keinen so außeror- dentlichen Verstand besäße, womit sie groß thun dürfte. Denn ich dachte, ich ließe ihr schon voll- kommen Gerechtigkeit widerfahren, wenn ich ihre blühende Jugend, die Liebenswürdigkeit ihrer Person, und die ungezwungne Art sich zu putzen, worauf sie meiner Meynung nach die Hälfte ih- rer Zeit und Bemühung verwandt haben müßte, für lobenswürdig erkennete. Und gleichwohl war ich schon von dir vorbereitet, daß ich mir von ih- rer Einsicht und Belesenheit sehr hohe Gedan- ken machen sollte. Allein ihre Entschließung, sich mit einem so lustigen Bruder auf so wagli- che Bedingungen einzulassen, dachte ich, ist ein sicherer Beweis, daß es ihrem Verstande noch an derjenigen Reife fehlet, die nur Jahre und Erfahrung zuwege bringen. Jhr Erkennt-
niß,
nen; welches bey einem ſo feinen Verſtande, als ſie beſitzet, ihr in ihrem Ungluͤcke eine neue herzna- gende Betrachtung ſeyn wird. Und doch iſt der Streit zwiſchen euch ſehr ungleich, wie er zwi- ſchen der bloßen Unſchuld und einer bewaffneten Bosheit ſeyn muß. Denn in einem jeden an- dern Stuͤcke uͤbertreffen ihre Gaben die deinigen ſehr weit. Das geſtehſt du ſelbſt ‒ ‒ Wie un- ertraͤglich wird ihr Schickſal ſeyn: wofern du nicht endlich durch deine wiederhohlten Gewiſ- ſensbiſſe uͤberwunden wirſt!
Zuerſt, als ich die Erlaubniß hatte, ſie zu ſe- hen, ehe ich ihr beſonderes und ruͤhrendes We- ſen bemerkte, ehe ich ſie ſprechen hoͤrte, vermuthe- te ich in der That, daß ſie eben keinen ſo außeror- dentlichen Verſtand beſaͤße, womit ſie groß thun duͤrfte. Denn ich dachte, ich ließe ihr ſchon voll- kommen Gerechtigkeit widerfahren, wenn ich ihre bluͤhende Jugend, die Liebenswuͤrdigkeit ihrer Perſon, und die ungezwungne Art ſich zu putzen, worauf ſie meiner Meynung nach die Haͤlfte ih- rer Zeit und Bemuͤhung verwandt haben muͤßte, fuͤr lobenswuͤrdig erkennete. Und gleichwohl war ich ſchon von dir vorbereitet, daß ich mir von ih- rer Einſicht und Beleſenheit ſehr hohe Gedan- ken machen ſollte. Allein ihre Entſchließung, ſich mit einem ſo luſtigen Bruder auf ſo wagli- che Bedingungen einzulaſſen, dachte ich, iſt ein ſicherer Beweis, daß es ihrem Verſtande noch an derjenigen Reife fehlet, die nur Jahre und Erfahrung zuwege bringen. Jhr Erkennt-
niß,
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nen; welches bey einem ſo feinen Verſtande, als
ſie beſitzet, ihr in ihrem Ungluͤcke eine neue herzna-
gende Betrachtung ſeyn wird. Und doch iſt der
Streit zwiſchen euch ſehr ungleich, wie er zwi-
ſchen der bloßen Unſchuld und einer bewaffneten
Bosheit ſeyn muß. Denn in einem jeden an-
dern Stuͤcke uͤbertreffen ihre Gaben die deinigen
ſehr weit. Das geſtehſt du ſelbſt ‒ ‒ Wie un-
ertraͤglich wird ihr Schickſal ſeyn: wofern du
nicht endlich durch deine wiederhohlten Gewiſ-
ſensbiſſe uͤberwunden wirſt!
Zuerſt, als ich die Erlaubniß hatte, ſie zu ſe-
hen, ehe ich ihr beſonderes und ruͤhrendes We-
ſen bemerkte, ehe ich ſie ſprechen hoͤrte, vermuthe-
te ich in der That, daß ſie eben keinen ſo außeror-
dentlichen Verſtand beſaͤße, womit ſie groß thun
duͤrfte. Denn ich dachte, ich ließe ihr ſchon voll-
kommen Gerechtigkeit widerfahren, wenn ich ihre
bluͤhende Jugend, die Liebenswuͤrdigkeit ihrer
Perſon, und die ungezwungne Art ſich zu putzen,
worauf ſie meiner Meynung nach die Haͤlfte ih-
rer Zeit und Bemuͤhung verwandt haben muͤßte,
fuͤr lobenswuͤrdig erkennete. Und gleichwohl war
ich ſchon von dir vorbereitet, daß ich mir von ih-
rer Einſicht und Beleſenheit ſehr hohe Gedan-
ken machen ſollte. Allein ihre Entſchließung,
ſich mit einem ſo luſtigen Bruder auf ſo wagli-
che Bedingungen einzulaſſen, dachte ich, iſt ein
ſicherer Beweis, daß es ihrem Verſtande noch
an derjenigen Reife fehlet, die nur Jahre und
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/36>, abgerufen am 23.11.2024.
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