"lein niemals Tugend und Unschuld dabey im "geringsten verletzet. Sie wäre nur zu einer ih- "rer vertrauten Freundinnen gelaufen, welche "bloß bey diesem ihren einzigen Fehler gar zu "viel Nachsicht gegen sie hätte, und sonst ein jun- "ges Fräulein wäre, das auf Ehre und Tugend "hielte. Deswegen hätte sein Herr sie nach Lon- "don gebracht: da sie sonst ordentlich ihren Auf- "enthalt auf dem Lande zu haben pflegten. Weil "er aber nicht geneigt gewesen wäre, ihr Ver- "langen in Ansehung einer gewissen Fräulein, "mit der man ihn in dem Thiergarten gesehen "hätte, zu erfüllen: so hätte sie, seit dem sie nach "London gekommen wäre, zum ersten mal seinen "Herrn so bezahlet; welchen er darüber halb au- "ßer sich verlassen habe."
Wahrlich er muß wohl außer sich seyn, der arme Herr! So schrien die ehrlichen Leute, und bedaureten mich, ehe sie mich noch einmal gesehen hatten.
"Er erzählte ihnen ferner, wie er zu der "Nachricht gekommen wäre, die er von ihr hät- "te, und ließ sich so vertraut mit ihnen ein, daß "sie ihm selbst halfen, seine Kleidung zu verän- "dern. Ja der Wirth erkundigte sich, auf sein "Ersuchen, insgeheim, ob die Fräulein wirklich "bey der Frau Moore im Hause bliebe, und auf "wie lange Zeit sie die Zimmer gemiethet hätte. "Er befand, daß es eigentlich nur auf eine Wo- "che geschehen war. Aber sie hatte dabey gesagt, "daß sie ihrem Vermuthen nach schwerlich so lan-
"ge
„lein niemals Tugend und Unſchuld dabey im „geringſten verletzet. Sie waͤre nur zu einer ih- „rer vertrauten Freundinnen gelaufen, welche „bloß bey dieſem ihren einzigen Fehler gar zu „viel Nachſicht gegen ſie haͤtte, und ſonſt ein jun- „ges Fraͤulein waͤre, das auf Ehre und Tugend „hielte. Deswegen haͤtte ſein Herr ſie nach Lon- „don gebracht: da ſie ſonſt ordentlich ihren Auf- „enthalt auf dem Lande zu haben pflegten. Weil „er aber nicht geneigt geweſen waͤre, ihr Ver- „langen in Anſehung einer gewiſſen Fraͤulein, „mit der man ihn in dem Thiergarten geſehen „haͤtte, zu erfuͤllen: ſo haͤtte ſie, ſeit dem ſie nach „London gekommen waͤre, zum erſten mal ſeinen „Herrn ſo bezahlet; welchen er daruͤber halb au- „ßer ſich verlaſſen habe.„
Wahrlich er muß wohl außer ſich ſeyn, der arme Herr! So ſchrien die ehrlichen Leute, und bedaureten mich, ehe ſie mich noch einmal geſehen hatten.
„Er erzaͤhlte ihnen ferner, wie er zu der „Nachricht gekommen waͤre, die er von ihr haͤt- „te, und ließ ſich ſo vertraut mit ihnen ein, daß „ſie ihm ſelbſt halfen, ſeine Kleidung zu veraͤn- „dern. Ja der Wirth erkundigte ſich, auf ſein „Erſuchen, insgeheim, ob die Fraͤulein wirklich „bey der Frau Moore im Hauſe bliebe, und auf „wie lange Zeit ſie die Zimmer gemiethet haͤtte. „Er befand, daß es eigentlich nur auf eine Wo- „che geſchehen war. Aber ſie hatte dabey geſagt, „daß ſie ihrem Vermuthen nach ſchwerlich ſo lan-
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[205/0211]
„lein niemals Tugend und Unſchuld dabey im
„geringſten verletzet. Sie waͤre nur zu einer ih-
„rer vertrauten Freundinnen gelaufen, welche
„bloß bey dieſem ihren einzigen Fehler gar zu
„viel Nachſicht gegen ſie haͤtte, und ſonſt ein jun-
„ges Fraͤulein waͤre, das auf Ehre und Tugend
„hielte. Deswegen haͤtte ſein Herr ſie nach Lon-
„don gebracht: da ſie ſonſt ordentlich ihren Auf-
„enthalt auf dem Lande zu haben pflegten. Weil
„er aber nicht geneigt geweſen waͤre, ihr Ver-
„langen in Anſehung einer gewiſſen Fraͤulein,
„mit der man ihn in dem Thiergarten geſehen
„haͤtte, zu erfuͤllen: ſo haͤtte ſie, ſeit dem ſie nach
„London gekommen waͤre, zum erſten mal ſeinen
„Herrn ſo bezahlet; welchen er daruͤber halb au-
„ßer ſich verlaſſen habe.„
Wahrlich er muß wohl außer ſich ſeyn,
der arme Herr! So ſchrien die ehrlichen Leute,
und bedaureten mich, ehe ſie mich noch einmal
geſehen hatten.
„Er erzaͤhlte ihnen ferner, wie er zu der
„Nachricht gekommen waͤre, die er von ihr haͤt-
„te, und ließ ſich ſo vertraut mit ihnen ein, daß
„ſie ihm ſelbſt halfen, ſeine Kleidung zu veraͤn-
„dern. Ja der Wirth erkundigte ſich, auf ſein
„Erſuchen, insgeheim, ob die Fraͤulein wirklich
„bey der Frau Moore im Hauſe bliebe, und auf
„wie lange Zeit ſie die Zimmer gemiethet haͤtte.
„Er befand, daß es eigentlich nur auf eine Wo-
„che geſchehen war. Aber ſie hatte dabey geſagt,
„daß ſie ihrem Vermuthen nach ſchwerlich ſo lan-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/211>, abgerufen am 12.12.2024.
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