alles, was ihr aus meines Onkels Briefe, den ich ihr nicht zeigen konnte, zu wissen nöthig war, angebracht, und der Güter wegen, die mir bey meiner Heyrath übertragen werden sollen, mei- nen Willen vernommen. - - - Dennoch ist bey allem diesen günstigen Anschein kein günstiger Augenblick zu finden, keine für mich brauchbare Zärtlichkeit zu erregen.
Es ist wahr; ich habe ihr zweymal mit Ent- zückung, die sie einmal ungeschliffen nannte, ei- nen Kuß gegeben. Aber jedesmal ward sie über die genommene Freyheit empfindlich und gieng weg. Doch muß ich ihr die Gerechtigkeit wie- derfahren lassen, daß sie so gewogen war, mir auf mein erstes Bitten ihre Gegenwart wieder zu gönnen und der Ursache ihrer Entfernung mit keinem Worte zu gedenken.
Jst es der Klugheit gemäß, sich über un- schuldige Freyheiten, die sie nach ihren Umstän- den so bald verzeihen muß, so offenbar ungehalten zu bezeigen?
Allein die Frauenzimmer, welche über die ersten Freyheiten nicht unempfindlich werden, sind nothwendig verlohren. Denn die Liebe ist eine Betriegerinn, die immer mehr Ein- griffe zu thun suchet. Sie geht niemals rück- wärts. Sie trachtet immer weiter. Sie muß immer weiter trachten. Nichts als die letzte Gunst, kann sie befriedigen, wenn ihr einmal etwas eingeräumt ist. Und was hat ein Liebha-
ber,
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alles, was ihr aus meines Onkels Briefe, den ich ihr nicht zeigen konnte, zu wiſſen noͤthig war, angebracht, und der Guͤter wegen, die mir bey meiner Heyrath uͤbertragen werden ſollen, mei- nen Willen vernommen. ‒ ‒ ‒ Dennoch iſt bey allem dieſen guͤnſtigen Anſchein kein guͤnſtiger Augenblick zu finden, keine fuͤr mich brauchbare Zaͤrtlichkeit zu erregen.
Es iſt wahr; ich habe ihr zweymal mit Ent- zuͤckung, die ſie einmal ungeſchliffen nannte, ei- nen Kuß gegeben. Aber jedesmal ward ſie uͤber die genommene Freyheit empfindlich und gieng weg. Doch muß ich ihr die Gerechtigkeit wie- derfahren laſſen, daß ſie ſo gewogen war, mir auf mein erſtes Bitten ihre Gegenwart wieder zu goͤnnen und der Urſache ihrer Entfernung mit keinem Worte zu gedenken.
Jſt es der Klugheit gemaͤß, ſich uͤber un- ſchuldige Freyheiten, die ſie nach ihren Umſtaͤn- den ſo bald verzeihen muß, ſo offenbar ungehalten zu bezeigen?
Allein die Frauenzimmer, welche uͤber die erſten Freyheiten nicht unempfindlich werden, ſind nothwendig verlohren. Denn die Liebe iſt eine Betriegerinn, die immer mehr Ein- griffe zu thun ſuchet. Sie geht niemals ruͤck- waͤrts. Sie trachtet immer weiter. Sie muß immer weiter trachten. Nichts als die letzte Gunſt, kann ſie befriedigen, wenn ihr einmal etwas eingeraͤumt iſt. Und was hat ein Liebha-
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alles, was ihr aus meines Onkels Briefe, den
ich ihr nicht zeigen konnte, zu wiſſen noͤthig war,
angebracht, und der Guͤter wegen, die mir bey
meiner Heyrath uͤbertragen werden ſollen, mei-
nen Willen vernommen. ‒ ‒ ‒ Dennoch iſt bey
allem dieſen guͤnſtigen Anſchein kein guͤnſtiger
Augenblick zu finden, keine fuͤr mich brauchbare
Zaͤrtlichkeit zu erregen.
Es iſt wahr; ich habe ihr zweymal mit Ent-
zuͤckung, die ſie einmal ungeſchliffen nannte, ei-
nen Kuß gegeben. Aber jedesmal ward ſie uͤber
die genommene Freyheit empfindlich und gieng
weg. Doch muß ich ihr die Gerechtigkeit wie-
derfahren laſſen, daß ſie ſo gewogen war, mir
auf mein erſtes Bitten ihre Gegenwart wieder
zu goͤnnen und der Urſache ihrer Entfernung mit
keinem Worte zu gedenken.
Jſt es der Klugheit gemaͤß, ſich uͤber un-
ſchuldige Freyheiten, die ſie nach ihren Umſtaͤn-
den ſo bald verzeihen muß, ſo offenbar ungehalten
zu bezeigen?
Allein die Frauenzimmer, welche uͤber
die erſten Freyheiten nicht unempfindlich
werden, ſind nothwendig verlohren. Denn
die Liebe iſt eine Betriegerinn, die immer mehr Ein-
griffe zu thun ſuchet. Sie geht niemals ruͤck-
waͤrts. Sie trachtet immer weiter. Sie muß
immer weiter trachten. Nichts als die letzte
Gunſt, kann ſie befriedigen, wenn ihr einmal
etwas eingeraͤumt iſt. Und was hat ein Liebha-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/15>, abgerufen am 24.11.2024.
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