"Diese scheinbare Anzeigen machten den gu- "ten Kerl, der diese Nachricht gab, so neubegie- "rig, daß er ihr unvermerkt nachfolgte. Sie "sahe oft hinter sich. Ein jeder, der bey ihr vor- "bey gieng, wandte sich um ihr nachzusehen und "fällte sein Urtheil, über ihre Thränen, ihre be- "stürzte Eilfertigkeit und ihre reizende Person: "bis sie an einen Platz kam, wo die Kutschen zu "stehen pflegen. Einer von den Kutschern sprach "sie an, und ward angenommen. Er stieg her- "unter und öffnete die Kutschenthüre in fliegen- "der Eil; weil er ihre fliegende Eilfertigkeit sahe: "und sie sprang hinein, aber stolperte vor Flüch- "tigkeit und zerstieß sich, wie der Kerl vermuthe- "te, das Schienbein bey dem Stolpern."
Der Teufel hole mich, Bruder, wo mein edelmüthiges Herz nicht noch bey ihrer gottlosen Betrügerey gleichwohl starke Regungen für sie fühlet: wenn ich bedenke, was sie damals gedacht und gefürchtet haben muß! - Ein so zartes Ge- müth, und gleichwohl itzo um alle üble Nach- rede unbekümmert! Aber doch vermuthlich bey einem jeden, den sie sahe, voller Furcht, von einem Lovelace ergriffen zu werden! Dabey in völliger Ungewißheit, was für mannichfaltiger Gefahr sie sich aussetzte oder bey wem sie ein Obdach finden könnte; unbekannt in der Stadt und aller Wege unkundig; zu einer Zeit, da der Nachmittag fast
ver-
„Gezaͤnke etwas darinn gehoͤrt oder gewußt „wuͤrde!
„Dieſe ſcheinbare Anzeigen machten den gu- „ten Kerl, der dieſe Nachricht gab, ſo neubegie- „rig, daß er ihr unvermerkt nachfolgte. Sie „ſahe oft hinter ſich. Ein jeder, der bey ihr vor- „bey gieng, wandte ſich um ihr nachzuſehen und „faͤllte ſein Urtheil, uͤber ihre Thraͤnen, ihre be- „ſtuͤrzte Eilfertigkeit und ihre reizende Perſon: „bis ſie an einen Platz kam, wo die Kutſchen zu „ſtehen pflegen. Einer von den Kutſchern ſprach „ſie an, und ward angenommen. Er ſtieg her- „unter und oͤffnete die Kutſchenthuͤre in fliegen- „der Eil; weil er ihre fliegende Eilfertigkeit ſahe: „und ſie ſprang hinein, aber ſtolperte vor Fluͤch- „tigkeit und zerſtieß ſich, wie der Kerl vermuthe- „te, das Schienbein bey dem Stolpern.“
Der Teufel hole mich, Bruder, wo mein edelmuͤthiges Herz nicht noch bey ihrer gottloſen Betruͤgerey gleichwohl ſtarke Regungen fuͤr ſie fuͤhlet: wenn ich bedenke, was ſie damals gedacht und gefuͤrchtet haben muß! ‒ Ein ſo zartes Ge- muͤth, und gleichwohl itzo um alle uͤble Nach- rede unbekuͤmmert! Aber doch vermuthlich bey einem jeden, den ſie ſahe, voller Furcht, von einem Lovelace ergriffen zu werden! Dabey in voͤlliger Ungewißheit, was fuͤr mannichfaltiger Gefahr ſie ſich ausſetzte oder bey wem ſie ein Obdach finden koͤnnte; unbekannt in der Stadt und aller Wege unkundig; zu einer Zeit, da der Nachmittag faſt
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„Gezaͤnke etwas darinn gehoͤrt oder gewußt
„wuͤrde!
„Dieſe ſcheinbare Anzeigen machten den gu-
„ten Kerl, der dieſe Nachricht gab, ſo neubegie-
„rig, daß er ihr unvermerkt nachfolgte. Sie
„ſahe oft hinter ſich. Ein jeder, der bey ihr vor-
„bey gieng, wandte ſich um ihr nachzuſehen und
„faͤllte ſein Urtheil, uͤber ihre Thraͤnen, ihre be-
„ſtuͤrzte Eilfertigkeit und ihre reizende Perſon:
„bis ſie an einen Platz kam, wo die Kutſchen zu
„ſtehen pflegen. Einer von den Kutſchern ſprach
„ſie an, und ward angenommen. Er ſtieg her-
„unter und oͤffnete die Kutſchenthuͤre in fliegen-
„der Eil; weil er ihre fliegende Eilfertigkeit ſahe:
„und ſie ſprang hinein, aber ſtolperte vor Fluͤch-
„tigkeit und zerſtieß ſich, wie der Kerl vermuthe-
„te, das Schienbein bey dem Stolpern.“
Der Teufel hole mich, Bruder, wo mein
edelmuͤthiges Herz nicht noch bey ihrer gottloſen
Betruͤgerey gleichwohl ſtarke Regungen fuͤr ſie
fuͤhlet: wenn ich bedenke, was ſie damals gedacht
und gefuͤrchtet haben muß! ‒ Ein ſo zartes Ge-
muͤth, und gleichwohl itzo um alle uͤble Nach-
rede unbekuͤmmert! Aber doch vermuthlich bey
einem jeden, den ſie ſahe, voller Furcht, von einem
Lovelace ergriffen zu werden! Dabey in voͤlliger
Ungewißheit, was fuͤr mannichfaltiger Gefahr ſie
ſich ausſetzte oder bey wem ſie ein Obdach finden
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/130>, abgerufen am 25.11.2024.
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