Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



Augen einer Mannsperson nichts liebenswürdig
scheinen, worüber er ganz und gar misvergnügt ist.

Jch befahl Dorcas, wenn sie das letzte Hand-
briefchen unter die Thür steckte und es weggenom-
men fände, ihr zu sagen, daß ich auf eine Ant-
wort hoffete, ehe ich ausgienge.

Jhre Antwort war mündlich: Sagt ihm,
daß ich mich nicht darum bekümmere, wo
er hingehe, noch was er mache - - Und
dieß,
sprach sie, als Dorcas von neuem anfrug,
wäre alles, was sie mir zu sagen hätte.

Jch sahe durch das Schlüsselloch, als ich bey
ihrer Thür vorüber ging, und erblickte sie auf ih-
ren Knien unten an ihrem Bette, ihren Kopf und
ihre Brust an das Bette gelehnet, und ihre Arme
ausgestreckt. Angenehmer Engel! Sie schien
in Todesangst zu seyn, und gluchsete, wie ich in
der Entfernung hörte, als wenn ihr das Herz
bersten wollte. - - Bey meiner Seele, ich bin ein
barmherziger Bruder. Ueberlegung ist mein
Feind! - - Göttlich vollkommne Schöne! -
So viele Tage mit einander glücklich! - - Nun
so unglückselig! - Und weswegen? - - Jedoch
sie ist die Reinigkeit selbst - Und warum sollte
ich sie endlich so quälen - - Allein in der Ge-
müthsverfassung, worinn ich itzo bin, darf ich mit
selbst nicht trauen.



Jndem ich hier auf Mowbray und Mallory
wartete, durch deren Hülfe ich den Trauschein zu

erhal-
G 4



Augen einer Mannsperſon nichts liebenswuͤrdig
ſcheinen, woruͤber er ganz und gar misvergnuͤgt iſt.

Jch befahl Dorcas, wenn ſie das letzte Hand-
briefchen unter die Thuͤr ſteckte und es weggenom-
men faͤnde, ihr zu ſagen, daß ich auf eine Ant-
wort hoffete, ehe ich ausgienge.

Jhre Antwort war muͤndlich: Sagt ihm,
daß ich mich nicht darum bekuͤmmere, wo
er hingehe, noch was er mache ‒ ‒ Und
dieß,
ſprach ſie, als Dorcas von neuem anfrug,
waͤre alles, was ſie mir zu ſagen haͤtte.

Jch ſahe durch das Schluͤſſelloch, als ich bey
ihrer Thuͤr voruͤber ging, und erblickte ſie auf ih-
ren Knien unten an ihrem Bette, ihren Kopf und
ihre Bruſt an das Bette gelehnet, und ihre Arme
ausgeſtreckt. Angenehmer Engel! Sie ſchien
in Todesangſt zu ſeyn, und gluchſete, wie ich in
der Entfernung hoͤrte, als wenn ihr das Herz
berſten wollte. ‒ ‒ Bey meiner Seele, ich bin ein
barmherziger Bruder. Ueberlegung iſt mein
Feind! ‒ ‒ Goͤttlich vollkommne Schoͤne! ‒
So viele Tage mit einander gluͤcklich! ‒ ‒ Nun
ſo ungluͤckſelig! ‒ Und weswegen? ‒ ‒ Jedoch
ſie iſt die Reinigkeit ſelbſt ‒ Und warum ſollte
ich ſie endlich ſo quaͤlen ‒ ‒ Allein in der Ge-
muͤthsverfaſſung, worinn ich itzo bin, darf ich mit
ſelbſt nicht trauen.



Jndem ich hier auf Mowbray und Mallory
wartete, durch deren Huͤlfe ich den Trauſchein zu

erhal-
G 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0109" n="103"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Augen einer Mannsper&#x017F;on nichts liebenswu&#x0364;rdig<lb/>
&#x017F;cheinen, woru&#x0364;ber er ganz und gar misvergnu&#x0364;gt i&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Jch befahl Dorcas, wenn &#x017F;ie das letzte Hand-<lb/>
briefchen unter die Thu&#x0364;r &#x017F;teckte und es weggenom-<lb/>
men fa&#x0364;nde, ihr zu &#x017F;agen, daß ich auf eine Ant-<lb/>
wort hoffete, ehe ich ausgienge.</p><lb/>
          <p>Jhre Antwort war mu&#x0364;ndlich: <hi rendition="#fr">Sagt ihm,<lb/>
daß ich mich nicht darum beku&#x0364;mmere, wo<lb/>
er hingehe, noch was er mache &#x2012; &#x2012; Und<lb/>
dieß,</hi> &#x017F;prach &#x017F;ie, als Dorcas von neuem anfrug,<lb/><hi rendition="#fr">wa&#x0364;re alles, was &#x017F;ie mir zu &#x017F;agen ha&#x0364;tte.</hi></p><lb/>
          <p>Jch &#x017F;ahe durch das Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;elloch, als ich bey<lb/>
ihrer Thu&#x0364;r voru&#x0364;ber ging, und erblickte &#x017F;ie auf ih-<lb/>
ren Knien unten an ihrem Bette, ihren Kopf und<lb/>
ihre Bru&#x017F;t an das Bette gelehnet, und ihre Arme<lb/>
ausge&#x017F;treckt. Angenehmer Engel! Sie &#x017F;chien<lb/>
in Todesang&#x017F;t zu &#x017F;eyn, und gluch&#x017F;ete, wie ich in<lb/>
der Entfernung ho&#x0364;rte, als wenn ihr das Herz<lb/>
ber&#x017F;ten wollte. &#x2012; &#x2012; Bey meiner Seele, ich bin ein<lb/><hi rendition="#fr">barmherziger</hi> Bruder. Ueberlegung i&#x017F;t mein<lb/>
Feind! &#x2012; &#x2012; Go&#x0364;ttlich vollkommne Scho&#x0364;ne! &#x2012;<lb/>
So viele Tage mit einander glu&#x0364;cklich! &#x2012; &#x2012; Nun<lb/>
&#x017F;o unglu&#x0364;ck&#x017F;elig! &#x2012; Und weswegen? &#x2012; &#x2012; Jedoch<lb/>
&#x017F;ie i&#x017F;t die Reinigkeit &#x017F;elb&#x017F;t &#x2012; Und warum &#x017F;ollte<lb/>
ich &#x017F;ie endlich &#x017F;o qua&#x0364;len &#x2012; &#x2012; Allein in der Ge-<lb/>
mu&#x0364;thsverfa&#x017F;&#x017F;ung, worinn ich itzo bin, darf ich mit<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t nicht trauen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Jndem ich hier auf Mowbray und Mallory<lb/>
wartete, durch deren Hu&#x0364;lfe ich den Trau&#x017F;chein zu<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G 4</fw><fw place="bottom" type="catch">erhal-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[103/0109] Augen einer Mannsperſon nichts liebenswuͤrdig ſcheinen, woruͤber er ganz und gar misvergnuͤgt iſt. Jch befahl Dorcas, wenn ſie das letzte Hand- briefchen unter die Thuͤr ſteckte und es weggenom- men faͤnde, ihr zu ſagen, daß ich auf eine Ant- wort hoffete, ehe ich ausgienge. Jhre Antwort war muͤndlich: Sagt ihm, daß ich mich nicht darum bekuͤmmere, wo er hingehe, noch was er mache ‒ ‒ Und dieß, ſprach ſie, als Dorcas von neuem anfrug, waͤre alles, was ſie mir zu ſagen haͤtte. Jch ſahe durch das Schluͤſſelloch, als ich bey ihrer Thuͤr voruͤber ging, und erblickte ſie auf ih- ren Knien unten an ihrem Bette, ihren Kopf und ihre Bruſt an das Bette gelehnet, und ihre Arme ausgeſtreckt. Angenehmer Engel! Sie ſchien in Todesangſt zu ſeyn, und gluchſete, wie ich in der Entfernung hoͤrte, als wenn ihr das Herz berſten wollte. ‒ ‒ Bey meiner Seele, ich bin ein barmherziger Bruder. Ueberlegung iſt mein Feind! ‒ ‒ Goͤttlich vollkommne Schoͤne! ‒ So viele Tage mit einander gluͤcklich! ‒ ‒ Nun ſo ungluͤckſelig! ‒ Und weswegen? ‒ ‒ Jedoch ſie iſt die Reinigkeit ſelbſt ‒ Und warum ſollte ich ſie endlich ſo quaͤlen ‒ ‒ Allein in der Ge- muͤthsverfaſſung, worinn ich itzo bin, darf ich mit ſelbſt nicht trauen. Jndem ich hier auf Mowbray und Mallory wartete, durch deren Huͤlfe ich den Trauſchein zu erhal- G 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/109
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/109>, abgerufen am 25.11.2024.