Erinnern sie sich, mein liebster Engel, daß das Vergehen einer tadelnswürdigen Person ein Vergehen bey einer vollkommenen Person nicht rechtfertigen könne. Uebertriebne Bedenklichkeit kann vielleicht keine Bedenklichkeit seyn!
Jch kann mir selbst nichts vorwerfen, das diesen heftigen Unwillen verdiene.
Jch gestehe, die Heftigkeit meiner Neigung zu ihnen hätte mich über die geziemenden Schran- ken treiben können - - Aber daß ihre Befehle und Beschwerungen in einem solchen Augenblicke eine so große Gewalt über mich gehabt haben, das, unterstehe ich mich gehorsamst zu sagen, ver- dienet einige Betrachtung.
Sie legen mir auf, eine ganze Woche durch sie nicht zu sehen. Wenn ich keine Verzeihung von ihnen erlanget habe, ehe der Capitain Tom- linson zur Stadt kommt: was soll ich zu ihm sagen?
Jch bitte noch einmal, gönnen sie mir ihre Gegenwart in dem Speisesaale. Bey meiner Seele, Fräulein, ich muß sie sprechen.
Es ist höchst nöthig, daß ich sie wegen des Trauscheins und anderer besondern Umstände von großer Wichtigkeit um Rath frage. Die Leute unten im Hause halten uns für verheyrathet, und ich kann von solchen Dingen nicht mit ihnen re- den, wenn eine Thür zwischen uns ist.
Um des Himmels willen, erweisen sie mir die Gewogenheit, nur auf ein paar Minuten bey mir
zu
G 2
Erinnern ſie ſich, mein liebſter Engel, daß das Vergehen einer tadelnswuͤrdigen Perſon ein Vergehen bey einer vollkommenen Perſon nicht rechtfertigen koͤnne. Uebertriebne Bedenklichkeit kann vielleicht keine Bedenklichkeit ſeyn!
Jch kann mir ſelbſt nichts vorwerfen, das dieſen heftigen Unwillen verdiene.
Jch geſtehe, die Heftigkeit meiner Neigung zu ihnen haͤtte mich uͤber die geziemenden Schran- ken treiben koͤnnen ‒ ‒ Aber daß ihre Befehle und Beſchwerungen in einem ſolchen Augenblicke eine ſo große Gewalt uͤber mich gehabt haben, das, unterſtehe ich mich gehorſamſt zu ſagen, ver- dienet einige Betrachtung.
Sie legen mir auf, eine ganze Woche durch ſie nicht zu ſehen. Wenn ich keine Verzeihung von ihnen erlanget habe, ehe der Capitain Tom- linſon zur Stadt kommt: was ſoll ich zu ihm ſagen?
Jch bitte noch einmal, goͤnnen ſie mir ihre Gegenwart in dem Speiſeſaale. Bey meiner Seele, Fraͤulein, ich muß ſie ſprechen.
Es iſt hoͤchſt noͤthig, daß ich ſie wegen des Trauſcheins und anderer beſondern Umſtaͤnde von großer Wichtigkeit um Rath frage. Die Leute unten im Hauſe halten uns fuͤr verheyrathet, und ich kann von ſolchen Dingen nicht mit ihnen re- den, wenn eine Thuͤr zwiſchen uns iſt.
Um des Himmels willen, erweiſen ſie mir die Gewogenheit, nur auf ein paar Minuten bey mir
zu
G 2
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Erinnern ſie ſich, mein liebſter Engel, daß
das Vergehen einer tadelnswuͤrdigen Perſon ein
Vergehen bey einer vollkommenen Perſon nicht
rechtfertigen koͤnne. Uebertriebne Bedenklichkeit
kann vielleicht keine Bedenklichkeit ſeyn!
Jch kann mir ſelbſt nichts vorwerfen, das
dieſen heftigen Unwillen verdiene.
Jch geſtehe, die Heftigkeit meiner Neigung
zu ihnen haͤtte mich uͤber die geziemenden Schran-
ken treiben koͤnnen ‒ ‒ Aber daß ihre Befehle
und Beſchwerungen in einem ſolchen Augenblicke
eine ſo große Gewalt uͤber mich gehabt haben,
das, unterſtehe ich mich gehorſamſt zu ſagen, ver-
dienet einige Betrachtung.
Sie legen mir auf, eine ganze Woche durch
ſie nicht zu ſehen. Wenn ich keine Verzeihung
von ihnen erlanget habe, ehe der Capitain Tom-
linſon zur Stadt kommt: was ſoll ich zu ihm
ſagen?
Jch bitte noch einmal, goͤnnen ſie mir ihre
Gegenwart in dem Speiſeſaale. Bey meiner
Seele, Fraͤulein, ich muß ſie ſprechen.
Es iſt hoͤchſt noͤthig, daß ich ſie wegen des
Trauſcheins und anderer beſondern Umſtaͤnde von
großer Wichtigkeit um Rath frage. Die Leute
unten im Hauſe halten uns fuͤr verheyrathet, und
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Um des Himmels willen, erweiſen ſie mir die
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/105>, abgerufen am 02.02.2025.
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