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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749.

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kleinen Worte sind in dem Reiche der Worte von
der größesten Wichtigkeit; so wie die kleinen Fa-
milien in einem Königreiche. Die drey-und viel-
sylbigten Wörter sind zu nichts gut, als einfälti-
ge Magnaten vorzustellen.)

Jch darf es nicht sagen, gnädige Frau.
Mein Herr hat es mir verboten. Aber er ist
kräncker, als er denckt. Er wollte ihnen kein
Schrecken machen.

Jn allen Zügen ihres lieben Gesichtes war
die Bekümmerniß so gleich zu lesen. Sie hatte
Mitleiden mit mir. Bey meiner Seele, sie hat-
te Mitleiden.

Wo ist er denn?

Dorcas war so in der Eile, daß sie alle Höf-
lichkeit vergaß. (Denn, noch ein weiser Gedan-
cke: was wir Höflichkeit und Sitten nennen, ist
uns so gar nicht natürlich, daß wir uns erst dazu
anschicken müssen. Jn einem Sturm hört alle
Höflichkeit auf.) Jch habe nicht Zeit zu antwor-
ten! schrie die Hure, weil sie gern antworten woll-
te. (Der dritte kluge Einfall: sie machte es wie
die Leute, die es zum Verkauf ausrufen, und von
den Käufern weglaufen.) Weil sie so hitzig ward,
so ward die Fräulein im Fragen auch hitziger,
so wie die Käufer durch das Weglaufen hitziger
werden. Jch sehe jetzt im Geiste eine gantze
Straße voll Leute, die dem Ausrüfer so eifrig nach-
laufen, als wenn der erste unter ihnen ein Dieb
wäre, dem die andern einzuholen gedächten.

End-
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kleinen Worte ſind in dem Reiche der Worte von
der groͤßeſten Wichtigkeit; ſo wie die kleinen Fa-
milien in einem Koͤnigreiche. Die drey-und viel-
ſylbigten Woͤrter ſind zu nichts gut, als einfaͤlti-
ge Magnaten vorzuſtellen.)

Jch darf es nicht ſagen, gnaͤdige Frau.
Mein Herr hat es mir verboten. Aber er iſt
kraͤncker, als er denckt. Er wollte ihnen kein
Schrecken machen.

Jn allen Zuͤgen ihres lieben Geſichtes war
die Bekuͤmmerniß ſo gleich zu leſen. Sie hatte
Mitleiden mit mir. Bey meiner Seele, ſie hat-
te Mitleiden.

Wo iſt er denn?

Dorcas war ſo in der Eile, daß ſie alle Hoͤf-
lichkeit vergaß. (Denn, noch ein weiſer Gedan-
cke: was wir Hoͤflichkeit und Sitten nennen, iſt
uns ſo gar nicht natuͤrlich, daß wir uns erſt dazu
anſchicken muͤſſen. Jn einem Sturm hoͤrt alle
Hoͤflichkeit auf.) Jch habe nicht Zeit zu antwor-
ten! ſchrie die Hure, weil ſie gern antworten woll-
te. (Der dritte kluge Einfall: ſie machte es wie
die Leute, die es zum Verkauf ausrufen, und von
den Kaͤufern weglaufen.) Weil ſie ſo hitzig ward,
ſo ward die Fraͤulein im Fragen auch hitziger,
ſo wie die Kaͤufer durch das Weglaufen hitziger
werden. Jch ſehe jetzt im Geiſte eine gantze
Straße voll Leute, die dem Ausruͤfer ſo eifrig nach-
laufen, als wenn der erſte unter ihnen ein Dieb
waͤre, dem die andern einzuholen gedaͤchten.

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[325/0331] kleinen Worte ſind in dem Reiche der Worte von der groͤßeſten Wichtigkeit; ſo wie die kleinen Fa- milien in einem Koͤnigreiche. Die drey-und viel- ſylbigten Woͤrter ſind zu nichts gut, als einfaͤlti- ge Magnaten vorzuſtellen.) Jch darf es nicht ſagen, gnaͤdige Frau. Mein Herr hat es mir verboten. Aber er iſt kraͤncker, als er denckt. Er wollte ihnen kein Schrecken machen. Jn allen Zuͤgen ihres lieben Geſichtes war die Bekuͤmmerniß ſo gleich zu leſen. Sie hatte Mitleiden mit mir. Bey meiner Seele, ſie hat- te Mitleiden. Wo iſt er denn? Dorcas war ſo in der Eile, daß ſie alle Hoͤf- lichkeit vergaß. (Denn, noch ein weiſer Gedan- cke: was wir Hoͤflichkeit und Sitten nennen, iſt uns ſo gar nicht natuͤrlich, daß wir uns erſt dazu anſchicken muͤſſen. Jn einem Sturm hoͤrt alle Hoͤflichkeit auf.) Jch habe nicht Zeit zu antwor- ten! ſchrie die Hure, weil ſie gern antworten woll- te. (Der dritte kluge Einfall: ſie machte es wie die Leute, die es zum Verkauf ausrufen, und von den Kaͤufern weglaufen.) Weil ſie ſo hitzig ward, ſo ward die Fraͤulein im Fragen auch hitziger, ſo wie die Kaͤufer durch das Weglaufen hitziger werden. Jch ſehe jetzt im Geiſte eine gantze Straße voll Leute, die dem Ausruͤfer ſo eifrig nach- laufen, als wenn der erſte unter ihnen ein Dieb waͤre, dem die andern einzuholen gedaͤchten. End- X 3

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/331>, abgerufen am 25.11.2024.