Die verfluchte Nachrede der Leute ist mir gleich zu Anfange schädlich gewesen, als ich mich an die- ses Mädchen machte. Allein es ist und bleibt doch ein Mädchen. Wenn es mich auf das äusserste hasset, so werde ich doch einen günstigen Augen- blick finden!
Wodurch soll ich sie aber versuchen? durch Reichthum? Sie ist mitten in dem Reichthum gebohren: sie kennet und verachtet den Reichthum. Durch Juwelen und Spielwerck? Was fragt eine Seele darnach, die selbst eine Juwele ist, und so unvergleichlich eingefaßt ist? Durch Lie- be? Wenn sie ja weiß, was Liebe ist, so ist doch die Liebe bey ihr so sehr unter der Herrschaft der Vernunft, daß ich daran verzweifele, sie jemahls anders als auf ihrer Huth zu finden. Sie be- sitzt so viele Wachsamkeit, daß ihre Furcht der wircklichen Gefahr immer zuvor zu kommen schei- net. Die Liebe zur Tugend ist ihr entweder angebohren, oder sie ist doch zum wenigsten so tief bey ihr gewurtzelt, daß gleichsam ihr gantzes Hertz mit ihren Wurtzeln und Fäserchen durch- wachsen ist, und ich ohnmöglich dieses Geäder werde ausgäten können, ohne zugleich ihr Leben zu verletzen.
Wie soll ich es anfangen, ein so ausserordent- liches Kind so zahm zu machen, daß es nicht gleich vor den ersten Proben fliehet, welche die Zuberei- tung zu der großen Probe sind, ob sie sich nicht öfters werde überwinden lassen, wenn sie einmahl überwunden ist.
War-
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Die verfluchte Nachrede der Leute iſt mir gleich zu Anfange ſchaͤdlich geweſen, als ich mich an die- ſes Maͤdchen machte. Allein es iſt und bleibt doch ein Maͤdchen. Wenn es mich auf das aͤuſſerſte haſſet, ſo werde ich doch einen guͤnſtigen Augen- blick finden!
Wodurch ſoll ich ſie aber verſuchen? durch Reichthum? Sie iſt mitten in dem Reichthum gebohren: ſie kennet und verachtet den Reichthum. Durch Juwelen und Spielwerck? Was fragt eine Seele darnach, die ſelbſt eine Juwele iſt, und ſo unvergleichlich eingefaßt iſt? Durch Lie- be? Wenn ſie ja weiß, was Liebe iſt, ſo iſt doch die Liebe bey ihr ſo ſehr unter der Herrſchaft der Vernunft, daß ich daran verzweifele, ſie jemahls anders als auf ihrer Huth zu finden. Sie be- ſitzt ſo viele Wachſamkeit, daß ihre Furcht der wircklichen Gefahr immer zuvor zu kommen ſchei- net. Die Liebe zur Tugend iſt ihr entweder angebohren, oder ſie iſt doch zum wenigſten ſo tief bey ihr gewurtzelt, daß gleichſam ihr gantzes Hertz mit ihren Wurtzeln und Faͤſerchen durch- wachſen iſt, und ich ohnmoͤglich dieſes Geaͤder werde ausgaͤten koͤnnen, ohne zugleich ihr Leben zu verletzen.
Wie ſoll ich es anfangen, ein ſo auſſerordent- liches Kind ſo zahm zu machen, daß es nicht gleich vor den erſten Proben fliehet, welche die Zuberei- tung zu der großen Probe ſind, ob ſie ſich nicht oͤfters werde uͤberwinden laſſen, wenn ſie einmahl uͤberwunden iſt.
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Die verfluchte Nachrede der Leute iſt mir gleich
zu Anfange ſchaͤdlich geweſen, als ich mich an die-
ſes Maͤdchen machte. Allein es iſt und bleibt doch
ein Maͤdchen. Wenn es mich auf das aͤuſſerſte
haſſet, ſo werde ich doch einen guͤnſtigen Augen-
blick finden!
Wodurch ſoll ich ſie aber verſuchen? durch
Reichthum? Sie iſt mitten in dem Reichthum
gebohren: ſie kennet und verachtet den Reichthum.
Durch Juwelen und Spielwerck? Was fragt
eine Seele darnach, die ſelbſt eine Juwele iſt,
und ſo unvergleichlich eingefaßt iſt? Durch Lie-
be? Wenn ſie ja weiß, was Liebe iſt, ſo iſt doch
die Liebe bey ihr ſo ſehr unter der Herrſchaft der
Vernunft, daß ich daran verzweifele, ſie jemahls
anders als auf ihrer Huth zu finden. Sie be-
ſitzt ſo viele Wachſamkeit, daß ihre Furcht der
wircklichen Gefahr immer zuvor zu kommen ſchei-
net. Die Liebe zur Tugend iſt ihr entweder
angebohren, oder ſie iſt doch zum wenigſten ſo
tief bey ihr gewurtzelt, daß gleichſam ihr gantzes
Hertz mit ihren Wurtzeln und Faͤſerchen durch-
wachſen iſt, und ich ohnmoͤglich dieſes Geaͤder
werde ausgaͤten koͤnnen, ohne zugleich ihr Leben zu
verletzen.
Wie ſoll ich es anfangen, ein ſo auſſerordent-
liches Kind ſo zahm zu machen, daß es nicht gleich
vor den erſten Proben fliehet, welche die Zuberei-
tung zu der großen Probe ſind, ob ſie ſich nicht
oͤfters werde uͤberwinden laſſen, wenn ſie einmahl
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/271>, abgerufen am 25.11.2024.
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