Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite


Sie ward über die Freyheit unwillig, die ich mir
nahm. Jch bückte mich deswegen und bat um
Vergebung; unter dem Bücken aber nahm ich den
Brief auf, und wollte ihn in den Busen stecken.

Bin ich nicht ein Narre, ein Einfalts-Pinsel, ein
ungeschickter Kerl, kurtz ein lebendiger Belford!
Jch hielt mich für klüger als ich bin. Warum
befahl ich der Dorcas nicht, mir in die Stube nach-
zufolgen, und den Brief unterdessen daß ich mich
an die Fräulein machte, aufzuheben?

Weil der Brief nicht zusammen geleget war, so
konnte ich ihn nicht ohne Geräusch beystecken, und
meine plötzliche Bewegung hatte ihre Augen schon
mit Verdacht erfüllet. Sie flog den Augenblick in
die Höhe: verrätherischer Judas (sagte sie mit fun-
ckelnden Augen und mit verworrenem Gesicht) was
haben sie von der Erde aufgehoben? Sie machte
sich kein Bedencken, den gestohlenen Brief mir mit
Gewalt abzunehmen, ob er gleich in meinem Busen
steckte: eine Gewaltthätigkeit, die meine Hand in
gleichem Falle nicht hätte wagen dürfen, wenn ich
meine Ohren behalten wollte.

Was konnte ich weiter thun, als um Vergebung
bitten, da sie mich auf der That ertappet hatte? Jch
umfassete mit beyden Händen ihre lose Hand, die
den geraubten Brief schon wieder hatte: mein liebstes
Kind, können sie dencken, daß ich gar keine Neugier
habe? Sie schreiben beständig; mir ist keine Schreib-
Art angenehmer, als Erzählungen in Briefen, und in-
sonderheit bewundere ich diese Schreib-Art an ihnen:
ist es denn Wunder, daß ich vor Verlangen brenne,

etwas
Vierter Theil. B


Sie ward uͤber die Freyheit unwillig, die ich mir
nahm. Jch buͤckte mich deswegen und bat um
Vergebung; unter dem Buͤcken aber nahm ich den
Brief auf, und wollte ihn in den Buſen ſtecken.

Bin ich nicht ein Narre, ein Einfalts-Pinſel, ein
ungeſchickter Kerl, kurtz ein lebendiger Belford!
Jch hielt mich fuͤr kluͤger als ich bin. Warum
befahl ich der Dorcas nicht, mir in die Stube nach-
zufolgen, und den Brief unterdeſſen daß ich mich
an die Fraͤulein machte, aufzuheben?

Weil der Brief nicht zuſammen geleget war, ſo
konnte ich ihn nicht ohne Geraͤuſch beyſtecken, und
meine ploͤtzliche Bewegung hatte ihre Augen ſchon
mit Verdacht erfuͤllet. Sie flog den Augenblick in
die Hoͤhe: verraͤtheriſcher Judas (ſagte ſie mit fun-
ckelnden Augen und mit verworrenem Geſicht) was
haben ſie von der Erde aufgehoben? Sie machte
ſich kein Bedencken, den geſtohlenen Brief mir mit
Gewalt abzunehmen, ob er gleich in meinem Buſen
ſteckte: eine Gewaltthaͤtigkeit, die meine Hand in
gleichem Falle nicht haͤtte wagen duͤrfen, wenn ich
meine Ohren behalten wollte.

Was konnte ich weiter thun, als um Vergebung
bitten, da ſie mich auf der That ertappet hatte? Jch
umfaſſete mit beyden Haͤnden ihre loſe Hand, die
den geraubten Brief ſchon wieder hatte: mein liebſtes
Kind, koͤnnen ſie dencken, daß ich gar keine Neugier
habe? Sie ſchreiben beſtaͤndig; mir iſt keine Schreib-
Art angenehmer, als Erzaͤhlungen in Briefen, und in-
ſonderheit bewundere ich dieſe Schreib-Art an ihnen:
iſt es denn Wunder, daß ich vor Verlangen brenne,

etwas
Vierter Theil. B
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0023" n="17"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Sie ward u&#x0364;ber die Freyheit unwillig, die ich mir<lb/>
nahm. Jch bu&#x0364;ckte mich deswegen und bat um<lb/>
Vergebung; unter dem Bu&#x0364;cken aber nahm ich den<lb/>
Brief auf, und wollte ihn in den Bu&#x017F;en &#x017F;tecken.</p><lb/>
          <p>Bin ich nicht ein Narre, ein Einfalts-Pin&#x017F;el, ein<lb/>
unge&#x017F;chickter Kerl, kurtz ein lebendiger <hi rendition="#fr">Belford!</hi><lb/>
Jch hielt mich fu&#x0364;r klu&#x0364;ger als ich bin. Warum<lb/>
befahl ich der <hi rendition="#fr">Dorcas</hi> nicht, mir in die Stube nach-<lb/>
zufolgen, und den Brief unterde&#x017F;&#x017F;en daß ich mich<lb/>
an die Fra&#x0364;ulein machte, aufzuheben?</p><lb/>
          <p>Weil der Brief nicht zu&#x017F;ammen geleget war, &#x017F;o<lb/>
konnte ich ihn nicht ohne Gera&#x0364;u&#x017F;ch bey&#x017F;tecken, und<lb/>
meine plo&#x0364;tzliche Bewegung hatte ihre Augen &#x017F;chon<lb/>
mit Verdacht erfu&#x0364;llet. Sie flog den Augenblick in<lb/>
die Ho&#x0364;he: verra&#x0364;theri&#x017F;cher <hi rendition="#fr">Judas</hi> (&#x017F;agte &#x017F;ie mit fun-<lb/>
ckelnden Augen und mit verworrenem Ge&#x017F;icht) was<lb/>
haben &#x017F;ie von der Erde aufgehoben? Sie machte<lb/>
&#x017F;ich kein Bedencken, den ge&#x017F;tohlenen Brief mir mit<lb/>
Gewalt abzunehmen, ob er gleich in meinem Bu&#x017F;en<lb/>
&#x017F;teckte: eine Gewalttha&#x0364;tigkeit, die meine Hand in<lb/>
gleichem Falle nicht ha&#x0364;tte wagen du&#x0364;rfen, wenn ich<lb/>
meine Ohren behalten wollte.</p><lb/>
          <p>Was konnte ich weiter thun, als um Vergebung<lb/>
bitten, da &#x017F;ie mich auf der That ertappet hatte? Jch<lb/>
umfa&#x017F;&#x017F;ete mit beyden Ha&#x0364;nden ihre lo&#x017F;e Hand, die<lb/>
den geraubten Brief &#x017F;chon wieder hatte: mein lieb&#x017F;tes<lb/>
Kind, ko&#x0364;nnen &#x017F;ie dencken, daß ich gar keine Neugier<lb/>
habe? Sie &#x017F;chreiben be&#x017F;ta&#x0364;ndig; mir i&#x017F;t keine Schreib-<lb/>
Art angenehmer, als Erza&#x0364;hlungen in Briefen, und in-<lb/>
&#x017F;onderheit bewundere ich die&#x017F;e Schreib-Art an ihnen:<lb/>
i&#x017F;t es denn Wunder, daß ich vor Verlangen brenne,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Vierter Theil.</hi> B</fw><fw place="bottom" type="catch">etwas</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0023] Sie ward uͤber die Freyheit unwillig, die ich mir nahm. Jch buͤckte mich deswegen und bat um Vergebung; unter dem Buͤcken aber nahm ich den Brief auf, und wollte ihn in den Buſen ſtecken. Bin ich nicht ein Narre, ein Einfalts-Pinſel, ein ungeſchickter Kerl, kurtz ein lebendiger Belford! Jch hielt mich fuͤr kluͤger als ich bin. Warum befahl ich der Dorcas nicht, mir in die Stube nach- zufolgen, und den Brief unterdeſſen daß ich mich an die Fraͤulein machte, aufzuheben? Weil der Brief nicht zuſammen geleget war, ſo konnte ich ihn nicht ohne Geraͤuſch beyſtecken, und meine ploͤtzliche Bewegung hatte ihre Augen ſchon mit Verdacht erfuͤllet. Sie flog den Augenblick in die Hoͤhe: verraͤtheriſcher Judas (ſagte ſie mit fun- ckelnden Augen und mit verworrenem Geſicht) was haben ſie von der Erde aufgehoben? Sie machte ſich kein Bedencken, den geſtohlenen Brief mir mit Gewalt abzunehmen, ob er gleich in meinem Buſen ſteckte: eine Gewaltthaͤtigkeit, die meine Hand in gleichem Falle nicht haͤtte wagen duͤrfen, wenn ich meine Ohren behalten wollte. Was konnte ich weiter thun, als um Vergebung bitten, da ſie mich auf der That ertappet hatte? Jch umfaſſete mit beyden Haͤnden ihre loſe Hand, die den geraubten Brief ſchon wieder hatte: mein liebſtes Kind, koͤnnen ſie dencken, daß ich gar keine Neugier habe? Sie ſchreiben beſtaͤndig; mir iſt keine Schreib- Art angenehmer, als Erzaͤhlungen in Briefen, und in- ſonderheit bewundere ich dieſe Schreib-Art an ihnen: iſt es denn Wunder, daß ich vor Verlangen brenne, etwas Vierter Theil. B

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/23
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 4. Göttingen, 1749, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa04_1749/23>, abgerufen am 24.11.2024.