kommen. Jch will mich vielmehr freuen, daß sie einmahl über den Rubicon gegangen ist: Daß sie jetzt nicht wieder zurück kann: daß ihre unver- söhnlichen Anverwanten glauben werden, sie habe nach eigener Wahl die Flucht ergriffen; um daß ich sie auf eine ihr empfindliche und meinem Stoltz sehr angenehme Art auf die Probe setzen kann, wenn ich Ursach finde, an ihrer Liebe zu mir zu zweifeln. Denn glaube mir, so zärtlich ich sie liebe, so woll- te ich ihrer doch nicht schonen, wenn ich in ihrem Gemüth nur einen Schatten des Zweiffels fände, ob sie mich allen andern meines Geschlechts vor- zöge.
Dienstages, um Tages Anbruch.
Auf den Flügeln der Liebe fliege ich eben zu mei- nem Entzücken hin, zu dem schönen Kinde, das vielleicht eben aufsteht, um die träge Morgenröthe zum Eylen zu bewegen. Jch habe in den andert- halb Stunden, in welchen ich mich niederlegte, den Gott des Schlaafs anzuruffen, kein Auge zuge- than. Jch scheine nicht mehr so materiel zu seyn, daß ich die abgehende Kräffte des Leibes durch den Schlaaf zu ersetzen nöthig habe.
Allein mein unvergleichliches Kind, warum sehe ich an dir nichts als hertzbrechenden Kummer? in dem Wagen? in dem Wirthshause? bey dem Aus- steigen? da du doch so heftig gedrücket bist? da du in so grosser Gefahr standest zu dem gezwungen zu werden, was dein grössester Abscheu war? War- um lässest du dich deine Flucht, die eben in dem ent-
schei-
kommen. Jch will mich vielmehr freuen, daß ſie einmahl uͤber den Rubicon gegangen iſt: Daß ſie jetzt nicht wieder zuruͤck kann: daß ihre unver- ſoͤhnlichen Anverwanten glauben werden, ſie habe nach eigener Wahl die Flucht ergriffen; um daß ich ſie auf eine ihr empfindliche und meinem Stoltz ſehr angenehme Art auf die Probe ſetzen kann, wenn ich Urſach finde, an ihrer Liebe zu mir zu zweifeln. Denn glaube mir, ſo zaͤrtlich ich ſie liebe, ſo woll- te ich ihrer doch nicht ſchonen, wenn ich in ihrem Gemuͤth nur einen Schatten des Zweiffels faͤnde, ob ſie mich allen andern meines Geſchlechts vor- zoͤge.
Dienſtages, um Tages Anbruch.
Auf den Fluͤgeln der Liebe fliege ich eben zu mei- nem Entzuͤcken hin, zu dem ſchoͤnen Kinde, das vielleicht eben aufſteht, um die traͤge Morgenroͤthe zum Eylen zu bewegen. Jch habe in den andert- halb Stunden, in welchen ich mich niederlegte, den Gott des Schlaafs anzuruffen, kein Auge zuge- than. Jch ſcheine nicht mehr ſo materiel zu ſeyn, daß ich die abgehende Kraͤffte des Leibes durch den Schlaaf zu erſetzen noͤthig habe.
Allein mein unvergleichliches Kind, warum ſehe ich an dir nichts als hertzbrechenden Kummer? in dem Wagen? in dem Wirthshauſe? bey dem Aus- ſteigen? da du doch ſo heftig gedruͤcket biſt? da du in ſo groſſer Gefahr ſtandeſt zu dem gezwungen zu werden, was dein groͤſſeſter Abſcheu war? War- um laͤſſeſt du dich deine Flucht, die eben in dem ent-
ſchei-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0061"n="47"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
kommen. Jch will mich vielmehr freuen, daß<lb/>ſie einmahl uͤber den <hirendition="#fr">Rubicon</hi> gegangen iſt: Daß<lb/>ſie jetzt nicht wieder zuruͤck kann: daß ihre unver-<lb/>ſoͤhnlichen Anverwanten glauben werden, ſie habe<lb/>
nach eigener Wahl die Flucht ergriffen; um daß<lb/>
ich ſie auf eine ihr empfindliche und meinem Stoltz<lb/>ſehr angenehme Art auf die Probe ſetzen kann, wenn<lb/>
ich Urſach finde, an ihrer Liebe zu mir zu zweifeln.<lb/>
Denn glaube mir, ſo zaͤrtlich ich ſie liebe, ſo woll-<lb/>
te ich ihrer doch nicht ſchonen, wenn ich in ihrem<lb/>
Gemuͤth nur einen Schatten des Zweiffels faͤnde,<lb/>
ob ſie mich allen andern meines Geſchlechts vor-<lb/>
zoͤge.</p><lb/><p><hirendition="#et">Dienſtages, um Tages Anbruch.</hi></p><lb/><p>Auf den Fluͤgeln der Liebe fliege ich eben zu mei-<lb/>
nem Entzuͤcken hin, zu dem ſchoͤnen Kinde, das<lb/>
vielleicht eben aufſteht, um die traͤge Morgenroͤthe<lb/>
zum Eylen zu bewegen. Jch habe in den andert-<lb/>
halb Stunden, in welchen ich mich niederlegte, den<lb/>
Gott des Schlaafs anzuruffen, kein Auge zuge-<lb/>
than. Jch ſcheine nicht mehr ſo materiel zu ſeyn,<lb/>
daß ich die abgehende Kraͤffte des Leibes durch den<lb/>
Schlaaf zu erſetzen noͤthig habe.</p><lb/><p>Allein mein unvergleichliches Kind, warum ſehe<lb/>
ich an dir nichts als hertzbrechenden Kummer? in<lb/>
dem Wagen? in dem Wirthshauſe? bey dem Aus-<lb/>ſteigen? da du doch ſo heftig gedruͤcket biſt? da du<lb/>
in ſo groſſer Gefahr ſtandeſt zu dem gezwungen zu<lb/>
werden, was dein groͤſſeſter Abſcheu war? War-<lb/>
um laͤſſeſt du dich deine Flucht, die eben in dem ent-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſchei-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[47/0061]
kommen. Jch will mich vielmehr freuen, daß
ſie einmahl uͤber den Rubicon gegangen iſt: Daß
ſie jetzt nicht wieder zuruͤck kann: daß ihre unver-
ſoͤhnlichen Anverwanten glauben werden, ſie habe
nach eigener Wahl die Flucht ergriffen; um daß
ich ſie auf eine ihr empfindliche und meinem Stoltz
ſehr angenehme Art auf die Probe ſetzen kann, wenn
ich Urſach finde, an ihrer Liebe zu mir zu zweifeln.
Denn glaube mir, ſo zaͤrtlich ich ſie liebe, ſo woll-
te ich ihrer doch nicht ſchonen, wenn ich in ihrem
Gemuͤth nur einen Schatten des Zweiffels faͤnde,
ob ſie mich allen andern meines Geſchlechts vor-
zoͤge.
Dienſtages, um Tages Anbruch.
Auf den Fluͤgeln der Liebe fliege ich eben zu mei-
nem Entzuͤcken hin, zu dem ſchoͤnen Kinde, das
vielleicht eben aufſteht, um die traͤge Morgenroͤthe
zum Eylen zu bewegen. Jch habe in den andert-
halb Stunden, in welchen ich mich niederlegte, den
Gott des Schlaafs anzuruffen, kein Auge zuge-
than. Jch ſcheine nicht mehr ſo materiel zu ſeyn,
daß ich die abgehende Kraͤffte des Leibes durch den
Schlaaf zu erſetzen noͤthig habe.
Allein mein unvergleichliches Kind, warum ſehe
ich an dir nichts als hertzbrechenden Kummer? in
dem Wagen? in dem Wirthshauſe? bey dem Aus-
ſteigen? da du doch ſo heftig gedruͤcket biſt? da du
in ſo groſſer Gefahr ſtandeſt zu dem gezwungen zu
werden, was dein groͤſſeſter Abſcheu war? War-
um laͤſſeſt du dich deine Flucht, die eben in dem ent-
ſchei-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/61>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.