Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite



Wesen wieder, welches es täglich zu seiner und seines
Besitzers Belustigung durch sein Singen zu erkennen
giebt.

Jch kann nicht leugnen, daß ich einmal einen Vo-
gel gesehen habe, der sich zu Tode hungerte, und
vor Kummer über seine Gefangenschaft starb. Al-
lein ich habe nie ein Mädchen angetroffen, das so
thöricht gewesen wäre. Drohungen genug habe ich
gehört, welche die liebenswürdigen Kinder gegen
ihr Leben ausstiessen. Man rühmt das schöne Ge-
schlecht nicht allzuschmeichlerisch, wenn man ihnen
mehr Verstand zuschreibt, als die Vögel besitzen:
und dennoch müssen wir alle gestehen, daß es schwerer
ist, Vögel als Mädchens zu fangen.

Wenn ich keinen weitern Versuch anstelle, Bel-
ford,
wie soll ich denn erfahren, ob dieses angeneh-
me Vögelchen sich nicht endlich bewegen liesse, mich
durch sein artiges Lied zu belustigen, und künftig mit
seinen Umständen eben so zufrieden zu seyn, als die
Vögel, so scheu sie auch sind, endlich ihr Gefäng-
niß lieb gewinnen?

Jch kann leicht errathen, was die Haupt-Ursache
ist, die dich zu so ungestümen Vorbitten verleitet.
Du wechselst Briefe mit dem Lord M. der voller Un-
geduld ist, und schon lange gewünschet hat, mich in
Fesseln zu sehen. Du willst dich gern um den gnä-
digen podagrischen Herrn verdient machen, weil du
eine Absicht auf eine seiner Basen hast. Allein weist
du nicht, daß dir mein Ja-Wort fehlen wird?

Ein solches Mädchen, als die Charlotte ist,
wird sich sehr an dir erquicken, wenn ich ihr erzähle,

wie



Weſen wieder, welches es taͤglich zu ſeiner und ſeines
Beſitzers Beluſtigung durch ſein Singen zu erkennen
giebt.

Jch kann nicht leugnen, daß ich einmal einen Vo-
gel geſehen habe, der ſich zu Tode hungerte, und
vor Kummer uͤber ſeine Gefangenſchaft ſtarb. Al-
lein ich habe nie ein Maͤdchen angetroffen, das ſo
thoͤricht geweſen waͤre. Drohungen genug habe ich
gehoͤrt, welche die liebenswuͤrdigen Kinder gegen
ihr Leben ausſtieſſen. Man ruͤhmt das ſchoͤne Ge-
ſchlecht nicht allzuſchmeichleriſch, wenn man ihnen
mehr Verſtand zuſchreibt, als die Voͤgel beſitzen:
und dennoch muͤſſen wir alle geſtehen, daß es ſchwerer
iſt, Voͤgel als Maͤdchens zu fangen.

Wenn ich keinen weitern Verſuch anſtelle, Bel-
ford,
wie ſoll ich denn erfahren, ob dieſes angeneh-
me Voͤgelchen ſich nicht endlich bewegen lieſſe, mich
durch ſein artiges Lied zu beluſtigen, und kuͤnftig mit
ſeinen Umſtaͤnden eben ſo zufrieden zu ſeyn, als die
Voͤgel, ſo ſcheu ſie auch ſind, endlich ihr Gefaͤng-
niß lieb gewinnen?

Jch kann leicht errathen, was die Haupt-Urſache
iſt, die dich zu ſo ungeſtuͤmen Vorbitten verleitet.
Du wechſelſt Briefe mit dem Lord M. der voller Un-
geduld iſt, und ſchon lange gewuͤnſchet hat, mich in
Feſſeln zu ſehen. Du willſt dich gern um den gnaͤ-
digen podagriſchen Herrn verdient machen, weil du
eine Abſicht auf eine ſeiner Baſen haſt. Allein weiſt
du nicht, daß dir mein Ja-Wort fehlen wird?

Ein ſolches Maͤdchen, als die Charlotte iſt,
wird ſich ſehr an dir erquicken, wenn ich ihr erzaͤhle,

wie
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0553" n="539"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
We&#x017F;en wieder, welches es ta&#x0364;glich zu &#x017F;einer und &#x017F;eines<lb/>
Be&#x017F;itzers Belu&#x017F;tigung durch &#x017F;ein Singen zu erkennen<lb/>
giebt.</p><lb/>
          <p>Jch kann nicht leugnen, daß ich einmal einen Vo-<lb/>
gel ge&#x017F;ehen habe, der &#x017F;ich zu Tode hungerte, und<lb/>
vor Kummer u&#x0364;ber &#x017F;eine Gefangen&#x017F;chaft &#x017F;tarb. Al-<lb/>
lein ich habe nie ein Ma&#x0364;dchen angetroffen, das &#x017F;o<lb/>
tho&#x0364;richt gewe&#x017F;en wa&#x0364;re. Drohungen genug habe ich<lb/>
geho&#x0364;rt, welche die liebenswu&#x0364;rdigen Kinder gegen<lb/>
ihr Leben aus&#x017F;tie&#x017F;&#x017F;en. Man ru&#x0364;hmt das &#x017F;cho&#x0364;ne Ge-<lb/>
&#x017F;chlecht nicht allzu&#x017F;chmeichleri&#x017F;ch, wenn man ihnen<lb/>
mehr Ver&#x017F;tand zu&#x017F;chreibt, als die Vo&#x0364;gel be&#x017F;itzen:<lb/>
und dennoch mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir alle ge&#x017F;tehen, daß es &#x017F;chwerer<lb/>
i&#x017F;t, Vo&#x0364;gel als Ma&#x0364;dchens zu fangen.</p><lb/>
          <p>Wenn ich keinen weitern Ver&#x017F;uch an&#x017F;telle, <hi rendition="#fr">Bel-<lb/>
ford,</hi> wie &#x017F;oll ich denn erfahren, ob die&#x017F;es angeneh-<lb/>
me Vo&#x0364;gelchen &#x017F;ich nicht endlich bewegen lie&#x017F;&#x017F;e, mich<lb/>
durch &#x017F;ein artiges Lied zu belu&#x017F;tigen, und ku&#x0364;nftig mit<lb/>
&#x017F;einen Um&#x017F;ta&#x0364;nden eben &#x017F;o zufrieden zu &#x017F;eyn, als die<lb/>
Vo&#x0364;gel, &#x017F;o &#x017F;cheu &#x017F;ie auch &#x017F;ind, endlich ihr Gefa&#x0364;ng-<lb/>
niß lieb gewinnen?</p><lb/>
          <p>Jch kann leicht errathen, was die Haupt-Ur&#x017F;ache<lb/>
i&#x017F;t, die dich zu &#x017F;o unge&#x017F;tu&#x0364;men Vorbitten verleitet.<lb/>
Du wech&#x017F;el&#x017F;t Briefe mit dem Lord M. der voller Un-<lb/>
geduld i&#x017F;t, und &#x017F;chon lange gewu&#x0364;n&#x017F;chet hat, mich in<lb/>
Fe&#x017F;&#x017F;eln zu &#x017F;ehen. Du will&#x017F;t dich gern um den gna&#x0364;-<lb/>
digen podagri&#x017F;chen Herrn verdient machen, weil du<lb/>
eine Ab&#x017F;icht auf eine &#x017F;einer Ba&#x017F;en ha&#x017F;t. Allein wei&#x017F;t<lb/>
du nicht, daß dir mein Ja-Wort fehlen wird?</p><lb/>
          <p>Ein &#x017F;olches Ma&#x0364;dchen, als die <hi rendition="#fr">Charlotte</hi> i&#x017F;t,<lb/>
wird &#x017F;ich &#x017F;ehr an dir erquicken, wenn ich ihr erza&#x0364;hle,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wie</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[539/0553] Weſen wieder, welches es taͤglich zu ſeiner und ſeines Beſitzers Beluſtigung durch ſein Singen zu erkennen giebt. Jch kann nicht leugnen, daß ich einmal einen Vo- gel geſehen habe, der ſich zu Tode hungerte, und vor Kummer uͤber ſeine Gefangenſchaft ſtarb. Al- lein ich habe nie ein Maͤdchen angetroffen, das ſo thoͤricht geweſen waͤre. Drohungen genug habe ich gehoͤrt, welche die liebenswuͤrdigen Kinder gegen ihr Leben ausſtieſſen. Man ruͤhmt das ſchoͤne Ge- ſchlecht nicht allzuſchmeichleriſch, wenn man ihnen mehr Verſtand zuſchreibt, als die Voͤgel beſitzen: und dennoch muͤſſen wir alle geſtehen, daß es ſchwerer iſt, Voͤgel als Maͤdchens zu fangen. Wenn ich keinen weitern Verſuch anſtelle, Bel- ford, wie ſoll ich denn erfahren, ob dieſes angeneh- me Voͤgelchen ſich nicht endlich bewegen lieſſe, mich durch ſein artiges Lied zu beluſtigen, und kuͤnftig mit ſeinen Umſtaͤnden eben ſo zufrieden zu ſeyn, als die Voͤgel, ſo ſcheu ſie auch ſind, endlich ihr Gefaͤng- niß lieb gewinnen? Jch kann leicht errathen, was die Haupt-Urſache iſt, die dich zu ſo ungeſtuͤmen Vorbitten verleitet. Du wechſelſt Briefe mit dem Lord M. der voller Un- geduld iſt, und ſchon lange gewuͤnſchet hat, mich in Feſſeln zu ſehen. Du willſt dich gern um den gnaͤ- digen podagriſchen Herrn verdient machen, weil du eine Abſicht auf eine ſeiner Baſen haſt. Allein weiſt du nicht, daß dir mein Ja-Wort fehlen wird? Ein ſolches Maͤdchen, als die Charlotte iſt, wird ſich ſehr an dir erquicken, wenn ich ihr erzaͤhle, wie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/553
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 539. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/553>, abgerufen am 26.11.2024.