ciber gleich in meine Rolle geschrieben. Was für heilsame Warnungen könnte ich den schelmischen Mädchens geben, wenn ich wollte! Vielleicht be- weget mich in meinem traurigen Alter der Neid zu dem guten Wercke, ihnen einen Wegweiser aufzu- richten, dazu ich mich aus Liebe zu der Tugend nicht entschliesse.
Dienstags Nachmittags.
Wenn unsere Gesellschaft in London ist, so sollt ihr mich bald nach meiner Ankunft zu sehen be- kommen. Mein Kind befindet sich etwas besser. Die Augen sind munterer, und die angenehme Stim- me, die ich vor kurtzer Zeit kaum vernehmen konnte, reitzet mich von neuem. Allein sie hat noch keine Liebe, keine Sinnen: die Bedeutungs-vollen, und doch so genannten unschuldigen Freyheiten, dadurch sich andere erweichen lassen, darf man gegen sie nicht gebrauchen. Es verdienet dieses noch mehr Verwunderung, weil sie ihre Zuneigung zu mir nicht leugnet, und sehr bekümmert ist: denn der Kummer pflegt sonst das schöne Geschlecht zu erwei- chen. Eine bekümmerte liebenswürdige Person siehet sich nach Trost um, und will sich gern schmei- cheln lassen. Freude und Kummer sind Hausge- nossen. Sie lassen sich zwar nicht in einem Fenster sehen, allein sie sind doch nie weit von einander.
Der sechszigste Brief von Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.
Mittewochens den 26ten April.
Endlich
ciber gleich in meine Rolle geſchrieben. Was fuͤr heilſame Warnungen koͤnnte ich den ſchelmiſchen Maͤdchens geben, wenn ich wollte! Vielleicht be- weget mich in meinem traurigen Alter der Neid zu dem guten Wercke, ihnen einen Wegweiſer aufzu- richten, dazu ich mich aus Liebe zu der Tugend nicht entſchlieſſe.
Dienſtags Nachmittags.
Wenn unſere Geſellſchaft in London iſt, ſo ſollt ihr mich bald nach meiner Ankunft zu ſehen be- kommen. Mein Kind befindet ſich etwas beſſer. Die Augen ſind munterer, und die angenehme Stim- me, die ich vor kurtzer Zeit kaum vernehmen konnte, reitzet mich von neuem. Allein ſie hat noch keine Liebe, keine Sinnen: die Bedeutungs-vollen, und doch ſo genannten unſchuldigen Freyheiten, dadurch ſich andere erweichen laſſen, darf man gegen ſie nicht gebrauchen. Es verdienet dieſes noch mehr Verwunderung, weil ſie ihre Zuneigung zu mir nicht leugnet, und ſehr bekuͤmmert iſt: denn der Kummer pflegt ſonſt das ſchoͤne Geſchlecht zu erwei- chen. Eine bekuͤmmerte liebenswuͤrdige Perſon ſiehet ſich nach Troſt um, und will ſich gern ſchmei- cheln laſſen. Freude und Kummer ſind Hausge- noſſen. Sie laſſen ſich zwar nicht in einem Fenſter ſehen, allein ſie ſind doch nie weit von einander.
Der ſechszigſte Brief von Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.
Mittewochens den 26ten April.
Endlich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0450"n="436"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><hirendition="#fr">ciber</hi> gleich in meine Rolle geſchrieben. Was fuͤr<lb/>
heilſame Warnungen koͤnnte ich den ſchelmiſchen<lb/>
Maͤdchens geben, wenn ich wollte! Vielleicht be-<lb/>
weget mich in meinem traurigen Alter der Neid zu<lb/>
dem guten Wercke, ihnen einen Wegweiſer aufzu-<lb/>
richten, dazu ich mich aus Liebe zu der Tugend nicht<lb/>
entſchlieſſe.</p><lb/><p><hirendition="#et">Dienſtags Nachmittags.</hi></p><lb/><p>Wenn unſere Geſellſchaft in <hirendition="#fr">London</hi> iſt, ſo<lb/>ſollt ihr mich bald nach meiner Ankunft zu ſehen be-<lb/>
kommen. Mein Kind befindet ſich etwas beſſer.<lb/>
Die Augen ſind munterer, und die angenehme Stim-<lb/>
me, die ich vor kurtzer Zeit kaum vernehmen konnte,<lb/>
reitzet mich von neuem. Allein ſie hat noch keine<lb/>
Liebe, keine Sinnen: die Bedeutungs-vollen, und<lb/>
doch ſo genannten unſchuldigen Freyheiten, dadurch<lb/>ſich andere erweichen laſſen, darf man gegen ſie<lb/>
nicht gebrauchen. Es verdienet dieſes noch mehr<lb/>
Verwunderung, weil ſie ihre Zuneigung zu mir<lb/>
nicht leugnet, und ſehr bekuͤmmert iſt: denn der<lb/>
Kummer pflegt ſonſt das ſchoͤne Geſchlecht zu erwei-<lb/>
chen. Eine bekuͤmmerte liebenswuͤrdige Perſon<lb/>ſiehet ſich nach Troſt um, und will ſich gern ſchmei-<lb/>
cheln laſſen. Freude und Kummer ſind Hausge-<lb/>
noſſen. Sie laſſen ſich zwar nicht in <hirendition="#fr">einem</hi> Fenſter<lb/>ſehen, allein ſie ſind doch nie weit von einander.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="2"><head><hirendition="#fr">Der ſechszigſte Brief</hi><lb/>
von<lb/><hirendition="#fr">Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.</hi></head><lb/><dateline><hirendition="#et">Mittewochens den 26ten April.</hi></dateline><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Endlich</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[436/0450]
ciber gleich in meine Rolle geſchrieben. Was fuͤr
heilſame Warnungen koͤnnte ich den ſchelmiſchen
Maͤdchens geben, wenn ich wollte! Vielleicht be-
weget mich in meinem traurigen Alter der Neid zu
dem guten Wercke, ihnen einen Wegweiſer aufzu-
richten, dazu ich mich aus Liebe zu der Tugend nicht
entſchlieſſe.
Dienſtags Nachmittags.
Wenn unſere Geſellſchaft in London iſt, ſo
ſollt ihr mich bald nach meiner Ankunft zu ſehen be-
kommen. Mein Kind befindet ſich etwas beſſer.
Die Augen ſind munterer, und die angenehme Stim-
me, die ich vor kurtzer Zeit kaum vernehmen konnte,
reitzet mich von neuem. Allein ſie hat noch keine
Liebe, keine Sinnen: die Bedeutungs-vollen, und
doch ſo genannten unſchuldigen Freyheiten, dadurch
ſich andere erweichen laſſen, darf man gegen ſie
nicht gebrauchen. Es verdienet dieſes noch mehr
Verwunderung, weil ſie ihre Zuneigung zu mir
nicht leugnet, und ſehr bekuͤmmert iſt: denn der
Kummer pflegt ſonſt das ſchoͤne Geſchlecht zu erwei-
chen. Eine bekuͤmmerte liebenswuͤrdige Perſon
ſiehet ſich nach Troſt um, und will ſich gern ſchmei-
cheln laſſen. Freude und Kummer ſind Hausge-
noſſen. Sie laſſen ſich zwar nicht in einem Fenſter
ſehen, allein ſie ſind doch nie weit von einander.
Der ſechszigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.
Mittewochens den 26ten April.
Endlich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/450>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.